...
Lino Wirag
Schicksal Witzbildzeichner
Heute zweifle ich nicht daran, dass ich werden musste, was ich bin: ein Monster.
Es muss etwas wie Glück gegeben haben in meinem Leben, einen klebrigen Sirup des Einverstandenseins. Bevor ich Profi wurde, Witzezeichner on demand. Bis zu jenem düstren Tag hatte ich geglaubt, die Welt mit meinem Humor erhellen zu können, mehr Licht wollte ich in Herzen und Hirne pflanzen. „Mehr Licht“, das waren auch Goethes letzte Worte, bevor er von den Kissenbergen erschlagen wurde. Draußen ballen sich die Äste der Pappeln wie Insektenfühler. Die Baumstämme bohren sich aus dem kalten Boden.
Weiter unten, den Hang hinab, rollen die Kulissen von Bielefeld vorbei.
Ich habe mich nie aus dieser Stadt lösen können, genausowenig wie mein Feind, Erzfeind, den ich nur meine Rute nenne. Dabei spielt er nicht einmal in meiner Liga, hat es nie getan: Während der Feind in einer schlechtriechenden Ein-Zimmer-Wohnung haust, logiere ich über den Hängen der Stadt, in einer ehemaligen Admiralsvilla. Seine Bücher zählen Fünf , meine Hunderttausende!
Keinen Gedanken müsste ich an ihn verschwenden, nicht ein Neuron.
Und doch ..
Immer wieder zupfe ich mir am Kinn, dieser Bart ist lang, ist verklebt. Starre auf meine Hände: Diese Finger sind gichtig, krummgespitzt. Glotze in den Spiegel: Wieviele Witze haben diese Augen gesehen? In guten wie in schlechten Zeitschriften? Mehr als alle anderen.
Schwer schleiche ich ins Arbeitszimmer, jeder Schritt hinab, immer nur hinab.
Die vertrauten Arbeitsgeräte: Marter und Mahnung zugleich. Alles hier habe ich tausendfach in Händen gehalten, an jedem Gerät Schweiß, Blut, Tränen. Schweiß an den Bleistiften, die ich zum Aufwärmen unter die Achseln stecke, Blut an den Linealen, die ins Zahnfleisch abgleiten, wenn ich zwischen den Schneidezähnen nach Essensresten bohre, Tränen auf dem guten Schöllhammer-Zeichenkarton mit meinem privaten Wasserzeichen.
Was habe ich diesen Instrumenten, diesen Materialien zu verdanken? Nichts.
Wie oft haben sie mir das Leben einfacher gemacht? Nie.
Rechts an der Wand, an einen eisernen Marternagel gepinnt, hängt der Cartoonist Gagmaster: Er ist das Folterrad, auf das ich gezogen werde, jeden einzelnen Tag. Das vollautomatische Witzmodul mit seinen vier unabhängig drehbaren Justierscheiben ermöglicht mir, mehr als eine Million Gagmöglichkeiten herzustellen, von denen ich bisher vielleicht ein Fünftel ausgeschöpft habe. Ein schneller Dreh, und auf dem verhurten Gagmaster – aus den USA eingeschleust, wo er in einer kleinen Meisterwerkstatt für Witzbedarf mit einer Ettikettiermaschine beschriftet wird – finden die Parameter „Ort“, „Person“, „Stimmung“ und „Gegenstand“ in immer neuen Kombinationen zusammen, beispielsweise: im Zoo, Homosexueller, frivol, Fotokamera.
Daraus einen Witz bauen: eine Frage von Sekunden. Es ist ein Automatismus, ach was, Zwang. Denn wenn ich scheitere, könnte ich mich nie wieder im Spiegel anschreien.
Ich scheitere nie. Es gibt immer eine Möglichkeit. Es muss sie geben.
Diese beispielsweise: Zwei Schwuchteln, hemmungslos tuntig, die im Nilpferdhaus statt der Tiere den Arsch des strammen Tierwärters fotographieren, die eine sagt: „Solche Naturstudien könnte ich täglich betreiben.“
Aufschreiben, schnell hinkritzeln.
Rassistische Zweipfennigironie ist Gold für meinen Fundus.
Die Rute, mein süßer Nachbarsfeind, hat seinen Gagmaster angeblich handschriftlich um zwanzig weitere Stichworte ergänzt, in die Lücken zwischen anderen Begriffen gequetscht – aber ich habe in seinen Arbeiten nie andere Parameter entdecken können als bei mir, so oft und so genau ich sie auch analysiere.
Manchmal träume ich von einer geheimen Erweiterung, einem exklusiven, fünften Drehrad, mit dessen Hilfe sich zu jeder Witzbildsituation auch der – ach! – so krönende Abschluss, die Pointe, einstellen ließe. Es muss, so träumt mir, explosive Universalpointen geben, die sich auf jede Situation aufpropfen lassen und sie zur Detonation bringen. Bamm! Dann erwache ich.
Mir ist eingefallen, dass eine amerikanische Tageszeitung einmal zwei Gary-Larson-Cartoons mit vertauschten Untertiteln abdruckte – und die Witzbilder trotz der neuen Texte genauso komisch wirkten wie zuvor. Was war passiert?
Hatte Larson zwei Universalpointen gefunden? Waren beide Witze so schlecht, dass sie auch nach der Verschiebung nicht schlechter wurden? Oder ist jede Pointe so gut wie die andere?
Der Meister fand keine Antwort, erholte sich nie von diesem Schock: Knappe zwanzig Jahre später stellte er seine Zeichentätigkeit ein.
Versager!
Was ist ein Gary Larson gegen mich? Ein Picasso? Hat Picasso in seinem Leben einen einzigen – ich wiederhole: einen einzigen sauber ausgeführten Gag produziert? Pusteblume! Es sei denn, man betrachtet sein gesamtes windschiefes Werk als einzigen Witz, denn das ist es ja auch: der größte Treppenwitz der Kunstgeschichte!
Schwer lasse ich mich an den Zeichentisch sinken, noch harrt das Tagwerk meiner. Schon 9:11 Uhr – und noch keine Nasengurke gezeichnet.
Hastig drehe ich am Gagwheel, grapsche ich nach dem Tuschfässchen, den Schablonen, die ich für die Figuren verwende: Ein peruanischer Meisterschnitzer hat sie für mich aus Yuccabaumrinde gefertigt. Die wichtigsten Formen lassen sich damit in Sekunden aufs Blatt durchreiben, wo sie mit wenigen Strichen so variiert werden, dass das Ergebnis nach langatmigem Handwerk aussieht. Ein Tusch für den Pfusch!
Niemand darf den Kollegen jemals meine Geheimnisse verraten – sie würden jede meiner Ideen rippen wie die Rappen, Quatsch: Raben. Wie sie es so oft getan haben.
Alle stehlen alles.
Manchmal finde ich einen meiner kostbaren Witze in einem Cartoonbuch wieder, das schon vor sechzig Jahren erschienen ist: zwanzig Jahre vor meiner Geburt! So perfide sind ihre Methoden. Ich zermalme einen Knetradiergummi, doch so kräftig ich auch malme, er nimmt immer wieder neue Gestalt an. Wie meine Feinde. Sie lauern.
Lauern auf meine Geheimnisse. Die Geheimnisse meines Erfolgs.
Der vorgezeichnete Rahmen: meine Erfindung. Die Notfallpointe, die in drei Satzstellungen verwendet werden kann: von mir. Die Technik, alte Simplicissimus-Blätter und Zeitungsstrips aus den Vierzigern mit neuem Text zu versehen: mein Geistesblitz. Das „Große Buch der 10.000 Witze“, von denen selbst ich erst 3.289 in Bilder transformiert habe: meine Idee. Der Einfall, eine Comicseite in vier Comicstrips zu verteilen, einen Comicstrip in vier Cartoons und einen Cartoon in eine Illustration und einen Textwitz: mein Einfall.
Das „Schwarzbuch der Humorformen“, das in wenigen, schlechtkopierten Exemplaren auf Buchmessen von Hand zu Hand gereicht wird und die wichtigsten Witzmöglichkeiten (unter „SA“ beispielsweise Sarkasmus, Sadismus, Sardonismus, Satire etc.) so scharf voneinander abgrenzt – und mit so einleuchtenden Beispielen versieht –, dass in der Szene davon nur als kopernikanische Wende gesprochen wird: Ich war derjenige, der das „Schwarzbuch“ in den Fünfzigern aus dem Finnugrischen übersetzte und die ersten Exemplare xerographierte! So naiv. Heute ist meine einzigartige Leistung zum Allgemeingut herabgesunken, jedem Pfuschtuscher zur Plünderung hingeworfen.
Ich zeichnete Lemminge, bevor es „Nichtlustig“ gab, Brillen vor Perscheid und vor Larson und Koalas vor „Shit happens“ – es hat nur nie jemand bemerkt, weil ich schon bei Lisztaffen, Axolotls und Spitzmaulnashörnern als Running Gags angekommen war, als die „lieben Kollegen“ zum ersten Mal begannen, meine Einfälle zu plündern.
All diese Helferlein. Einst war es Freude, ja Lust, sie zu entdecken, zu raffinieren. Jetzt merke ich, dass ich mich selbst überflüssig gemacht habe. Die Putzfrau kontrolliert täglich den Füllstand im Tuscheglas, spitzt die Stifte, bügelt das Zeichenpapier.
Ich greife nach der ledernen Miniaturpeitsche, die neben mir vom Tisch hängt, und geißle mit kurzen Schlägen meine Zeichenhand. Ich nenne die Peitsche: meine Rute. Ich hebe die Stahlfeder.
Alles, was ich noch tun muss: Am Witzrad drehen, Schablonen auflegen; einen von 6.711 übrigen Witzen plündern, wenn mir nicht gleich etwas einfällt.
Vor einigen Wochen habe ich angefangen, jeden Tag das gleiche Blatt zu zeichnen, immer wieder. Es ist noch niemandem aufgefallen.
Ich schiebe es auf einen großen Berg, meine Witzwarteliste. Das weltweit operierende Unternehmen, das meine Arbeit vertritt, verlangt, mindestens 150 Gags im voraus verfügbar zu haben, um ihre Kunden – Zeitungen, Zeitschriften, Internetmagazine – auch im Fall der Fälle beliefern zu können. Der Fall der Fälle ist mein Tod. Auch dafür ist vorgesorgt: Falls ich über dem Tuschefluss gehe, dauert es genau 141 Tage, bis mein Klon, gewonnen aus meinen Haarzellen, so weit herangereift ist, dass er meinen Platz einnehmen kann.
Wärend ich die Pointe über den heutigen Witz – Schäferhund, Antillen, nervös, Weinglas – setze, ohne hinzusehen, lasse ich die anderen Großen Revue passieren.
Chaval: nimmt sich 1968 das Leben. Bosc: Selbstmord 1973 in Antibes, aus Furcht, ihm könnten keine Witze mehr einfallen. e. o. plauen, der Schöpfer von Vater und Sohn, geht 1944 in den Freitod, bevor Freisler ihn an den Galgen liefern kann. Bill Watterson, nachdem er Calvin & Hobbes beerdigt hat: „I've never regretted stopping when I did.“ Charles M. Schulz, nach fünfzig Jahren Peanuts: „Drama and humour come from trouble and sadness.“
Fast bin ich neidisch.
Die Glücklichen.
Müssen nie wieder lustig sein.
Ich lasse die Feder sinken, drücke das fertig gezeichnete Blatt durch den Schlitz neben dem Tisch, ohne es noch einmal anzusehen. Irgendwo wird es jetzt gescannt, koloriert, sortiert, wasweißich. Rezensionsexemplare erhalte ich nie. Unten schmiert meine Rute im Vorbeigehen obszöne Koalabären an die Bimssteinmauer meines Anwesens, seine Spraydose zischt wie ein Flammenstrahl.
Ich weiß, was ich jetzt zu tun habe.
Mein Computer startet in Sekundenschnelle.
Heute ist es soweit.
Bald muss ich nie wieder lustig sein.
Gestern habe ich den elektronischen Brief bekommen. Sie haben meine Entwürfe endlich umgesetzt. Der Jokekiller ist jetzt marktreif. In einem versteckten Seitental des Silicon Valley wurde monatelang an dem Computerprogramm gebastelt. Der Jokekiller viertelt die Zeit, die man für Recherche und Ideenfindung braucht, durch Dutzende von Instrumenten, Gadgets und Einstellungen, gefüttert von Tabellen über Tabellen mit komikträchtigen Daten.
Nicht einmal mehr selbst denken wird man dank der Software noch müssen: Ein Klick auf den rotschimmernden ANALOG-Button, und das Programm spuckt eine Liste fertiger Pointen aus, die nur noch ausgesiebt, sortiert und angespitzt werden müssen.
Darüber hinaus sind alle Programmfunktionen mit dem Internet verbunden: So bleiben die Namen der B- und C Promis automatisch aktuell. Das Publikum kriegt, was es verdient. Raab und Schmidt haben die Beta-Version getestet und schwören darauf, Hans Zippert lässt schon seit Wochen seine tägliche Kolumne damit schreiben. Und zeichnen kann es jetzt auch.
Der Jokekiller wird uns überflüssig machen. Uns alle.
Leise flüstere ich „meine Rute“, immer wieder, immer lauter, giftig tropft es mir von den Lippen.
Ich muss nur noch diesen Knopf drücken.
Nur noch diesen
Klick.
Schicksal Witzbildzeichner
Heute zweifle ich nicht daran, dass ich werden musste, was ich bin: ein Monster.
Es muss etwas wie Glück gegeben haben in meinem Leben, einen klebrigen Sirup des Einverstandenseins. Bevor ich Profi wurde, Witzezeichner on demand. Bis zu jenem düstren Tag hatte ich geglaubt, die Welt mit meinem Humor erhellen zu können, mehr Licht wollte ich in Herzen und Hirne pflanzen. „Mehr Licht“, das waren auch Goethes letzte Worte, bevor er von den Kissenbergen erschlagen wurde. Draußen ballen sich die Äste der Pappeln wie Insektenfühler. Die Baumstämme bohren sich aus dem kalten Boden.
Weiter unten, den Hang hinab, rollen die Kulissen von Bielefeld vorbei.
Ich habe mich nie aus dieser Stadt lösen können, genausowenig wie mein Feind, Erzfeind, den ich nur meine Rute nenne. Dabei spielt er nicht einmal in meiner Liga, hat es nie getan: Während der Feind in einer schlechtriechenden Ein-Zimmer-Wohnung haust, logiere ich über den Hängen der Stadt, in einer ehemaligen Admiralsvilla. Seine Bücher zählen Fünf , meine Hunderttausende!
Keinen Gedanken müsste ich an ihn verschwenden, nicht ein Neuron.
Und doch ..
Immer wieder zupfe ich mir am Kinn, dieser Bart ist lang, ist verklebt. Starre auf meine Hände: Diese Finger sind gichtig, krummgespitzt. Glotze in den Spiegel: Wieviele Witze haben diese Augen gesehen? In guten wie in schlechten Zeitschriften? Mehr als alle anderen.
Schwer schleiche ich ins Arbeitszimmer, jeder Schritt hinab, immer nur hinab.
Die vertrauten Arbeitsgeräte: Marter und Mahnung zugleich. Alles hier habe ich tausendfach in Händen gehalten, an jedem Gerät Schweiß, Blut, Tränen. Schweiß an den Bleistiften, die ich zum Aufwärmen unter die Achseln stecke, Blut an den Linealen, die ins Zahnfleisch abgleiten, wenn ich zwischen den Schneidezähnen nach Essensresten bohre, Tränen auf dem guten Schöllhammer-Zeichenkarton mit meinem privaten Wasserzeichen.
Was habe ich diesen Instrumenten, diesen Materialien zu verdanken? Nichts.
Wie oft haben sie mir das Leben einfacher gemacht? Nie.
Rechts an der Wand, an einen eisernen Marternagel gepinnt, hängt der Cartoonist Gagmaster: Er ist das Folterrad, auf das ich gezogen werde, jeden einzelnen Tag. Das vollautomatische Witzmodul mit seinen vier unabhängig drehbaren Justierscheiben ermöglicht mir, mehr als eine Million Gagmöglichkeiten herzustellen, von denen ich bisher vielleicht ein Fünftel ausgeschöpft habe. Ein schneller Dreh, und auf dem verhurten Gagmaster – aus den USA eingeschleust, wo er in einer kleinen Meisterwerkstatt für Witzbedarf mit einer Ettikettiermaschine beschriftet wird – finden die Parameter „Ort“, „Person“, „Stimmung“ und „Gegenstand“ in immer neuen Kombinationen zusammen, beispielsweise: im Zoo, Homosexueller, frivol, Fotokamera.
Daraus einen Witz bauen: eine Frage von Sekunden. Es ist ein Automatismus, ach was, Zwang. Denn wenn ich scheitere, könnte ich mich nie wieder im Spiegel anschreien.
Ich scheitere nie. Es gibt immer eine Möglichkeit. Es muss sie geben.
Diese beispielsweise: Zwei Schwuchteln, hemmungslos tuntig, die im Nilpferdhaus statt der Tiere den Arsch des strammen Tierwärters fotographieren, die eine sagt: „Solche Naturstudien könnte ich täglich betreiben.“
Aufschreiben, schnell hinkritzeln.
Rassistische Zweipfennigironie ist Gold für meinen Fundus.
Die Rute, mein süßer Nachbarsfeind, hat seinen Gagmaster angeblich handschriftlich um zwanzig weitere Stichworte ergänzt, in die Lücken zwischen anderen Begriffen gequetscht – aber ich habe in seinen Arbeiten nie andere Parameter entdecken können als bei mir, so oft und so genau ich sie auch analysiere.
Manchmal träume ich von einer geheimen Erweiterung, einem exklusiven, fünften Drehrad, mit dessen Hilfe sich zu jeder Witzbildsituation auch der – ach! – so krönende Abschluss, die Pointe, einstellen ließe. Es muss, so träumt mir, explosive Universalpointen geben, die sich auf jede Situation aufpropfen lassen und sie zur Detonation bringen. Bamm! Dann erwache ich.
Mir ist eingefallen, dass eine amerikanische Tageszeitung einmal zwei Gary-Larson-Cartoons mit vertauschten Untertiteln abdruckte – und die Witzbilder trotz der neuen Texte genauso komisch wirkten wie zuvor. Was war passiert?
Hatte Larson zwei Universalpointen gefunden? Waren beide Witze so schlecht, dass sie auch nach der Verschiebung nicht schlechter wurden? Oder ist jede Pointe so gut wie die andere?
Der Meister fand keine Antwort, erholte sich nie von diesem Schock: Knappe zwanzig Jahre später stellte er seine Zeichentätigkeit ein.
Versager!
Was ist ein Gary Larson gegen mich? Ein Picasso? Hat Picasso in seinem Leben einen einzigen – ich wiederhole: einen einzigen sauber ausgeführten Gag produziert? Pusteblume! Es sei denn, man betrachtet sein gesamtes windschiefes Werk als einzigen Witz, denn das ist es ja auch: der größte Treppenwitz der Kunstgeschichte!
Schwer lasse ich mich an den Zeichentisch sinken, noch harrt das Tagwerk meiner. Schon 9:11 Uhr – und noch keine Nasengurke gezeichnet.
Hastig drehe ich am Gagwheel, grapsche ich nach dem Tuschfässchen, den Schablonen, die ich für die Figuren verwende: Ein peruanischer Meisterschnitzer hat sie für mich aus Yuccabaumrinde gefertigt. Die wichtigsten Formen lassen sich damit in Sekunden aufs Blatt durchreiben, wo sie mit wenigen Strichen so variiert werden, dass das Ergebnis nach langatmigem Handwerk aussieht. Ein Tusch für den Pfusch!
Niemand darf den Kollegen jemals meine Geheimnisse verraten – sie würden jede meiner Ideen rippen wie die Rappen, Quatsch: Raben. Wie sie es so oft getan haben.
Alle stehlen alles.
Manchmal finde ich einen meiner kostbaren Witze in einem Cartoonbuch wieder, das schon vor sechzig Jahren erschienen ist: zwanzig Jahre vor meiner Geburt! So perfide sind ihre Methoden. Ich zermalme einen Knetradiergummi, doch so kräftig ich auch malme, er nimmt immer wieder neue Gestalt an. Wie meine Feinde. Sie lauern.
Lauern auf meine Geheimnisse. Die Geheimnisse meines Erfolgs.
Der vorgezeichnete Rahmen: meine Erfindung. Die Notfallpointe, die in drei Satzstellungen verwendet werden kann: von mir. Die Technik, alte Simplicissimus-Blätter und Zeitungsstrips aus den Vierzigern mit neuem Text zu versehen: mein Geistesblitz. Das „Große Buch der 10.000 Witze“, von denen selbst ich erst 3.289 in Bilder transformiert habe: meine Idee. Der Einfall, eine Comicseite in vier Comicstrips zu verteilen, einen Comicstrip in vier Cartoons und einen Cartoon in eine Illustration und einen Textwitz: mein Einfall.
Das „Schwarzbuch der Humorformen“, das in wenigen, schlechtkopierten Exemplaren auf Buchmessen von Hand zu Hand gereicht wird und die wichtigsten Witzmöglichkeiten (unter „SA“ beispielsweise Sarkasmus, Sadismus, Sardonismus, Satire etc.) so scharf voneinander abgrenzt – und mit so einleuchtenden Beispielen versieht –, dass in der Szene davon nur als kopernikanische Wende gesprochen wird: Ich war derjenige, der das „Schwarzbuch“ in den Fünfzigern aus dem Finnugrischen übersetzte und die ersten Exemplare xerographierte! So naiv. Heute ist meine einzigartige Leistung zum Allgemeingut herabgesunken, jedem Pfuschtuscher zur Plünderung hingeworfen.
Ich zeichnete Lemminge, bevor es „Nichtlustig“ gab, Brillen vor Perscheid und vor Larson und Koalas vor „Shit happens“ – es hat nur nie jemand bemerkt, weil ich schon bei Lisztaffen, Axolotls und Spitzmaulnashörnern als Running Gags angekommen war, als die „lieben Kollegen“ zum ersten Mal begannen, meine Einfälle zu plündern.
All diese Helferlein. Einst war es Freude, ja Lust, sie zu entdecken, zu raffinieren. Jetzt merke ich, dass ich mich selbst überflüssig gemacht habe. Die Putzfrau kontrolliert täglich den Füllstand im Tuscheglas, spitzt die Stifte, bügelt das Zeichenpapier.
Ich greife nach der ledernen Miniaturpeitsche, die neben mir vom Tisch hängt, und geißle mit kurzen Schlägen meine Zeichenhand. Ich nenne die Peitsche: meine Rute. Ich hebe die Stahlfeder.
Alles, was ich noch tun muss: Am Witzrad drehen, Schablonen auflegen; einen von 6.711 übrigen Witzen plündern, wenn mir nicht gleich etwas einfällt.
Vor einigen Wochen habe ich angefangen, jeden Tag das gleiche Blatt zu zeichnen, immer wieder. Es ist noch niemandem aufgefallen.
Ich schiebe es auf einen großen Berg, meine Witzwarteliste. Das weltweit operierende Unternehmen, das meine Arbeit vertritt, verlangt, mindestens 150 Gags im voraus verfügbar zu haben, um ihre Kunden – Zeitungen, Zeitschriften, Internetmagazine – auch im Fall der Fälle beliefern zu können. Der Fall der Fälle ist mein Tod. Auch dafür ist vorgesorgt: Falls ich über dem Tuschefluss gehe, dauert es genau 141 Tage, bis mein Klon, gewonnen aus meinen Haarzellen, so weit herangereift ist, dass er meinen Platz einnehmen kann.
Wärend ich die Pointe über den heutigen Witz – Schäferhund, Antillen, nervös, Weinglas – setze, ohne hinzusehen, lasse ich die anderen Großen Revue passieren.
Chaval: nimmt sich 1968 das Leben. Bosc: Selbstmord 1973 in Antibes, aus Furcht, ihm könnten keine Witze mehr einfallen. e. o. plauen, der Schöpfer von Vater und Sohn, geht 1944 in den Freitod, bevor Freisler ihn an den Galgen liefern kann. Bill Watterson, nachdem er Calvin & Hobbes beerdigt hat: „I've never regretted stopping when I did.“ Charles M. Schulz, nach fünfzig Jahren Peanuts: „Drama and humour come from trouble and sadness.“
Fast bin ich neidisch.
Die Glücklichen.
Müssen nie wieder lustig sein.
Ich lasse die Feder sinken, drücke das fertig gezeichnete Blatt durch den Schlitz neben dem Tisch, ohne es noch einmal anzusehen. Irgendwo wird es jetzt gescannt, koloriert, sortiert, wasweißich. Rezensionsexemplare erhalte ich nie. Unten schmiert meine Rute im Vorbeigehen obszöne Koalabären an die Bimssteinmauer meines Anwesens, seine Spraydose zischt wie ein Flammenstrahl.
Ich weiß, was ich jetzt zu tun habe.
Mein Computer startet in Sekundenschnelle.
Heute ist es soweit.
Bald muss ich nie wieder lustig sein.
Gestern habe ich den elektronischen Brief bekommen. Sie haben meine Entwürfe endlich umgesetzt. Der Jokekiller ist jetzt marktreif. In einem versteckten Seitental des Silicon Valley wurde monatelang an dem Computerprogramm gebastelt. Der Jokekiller viertelt die Zeit, die man für Recherche und Ideenfindung braucht, durch Dutzende von Instrumenten, Gadgets und Einstellungen, gefüttert von Tabellen über Tabellen mit komikträchtigen Daten.
Nicht einmal mehr selbst denken wird man dank der Software noch müssen: Ein Klick auf den rotschimmernden ANALOG-Button, und das Programm spuckt eine Liste fertiger Pointen aus, die nur noch ausgesiebt, sortiert und angespitzt werden müssen.
Darüber hinaus sind alle Programmfunktionen mit dem Internet verbunden: So bleiben die Namen der B- und C Promis automatisch aktuell. Das Publikum kriegt, was es verdient. Raab und Schmidt haben die Beta-Version getestet und schwören darauf, Hans Zippert lässt schon seit Wochen seine tägliche Kolumne damit schreiben. Und zeichnen kann es jetzt auch.
Der Jokekiller wird uns überflüssig machen. Uns alle.
Leise flüstere ich „meine Rute“, immer wieder, immer lauter, giftig tropft es mir von den Lippen.
Ich muss nur noch diesen Knopf drücken.
Nur noch diesen
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16. Apr, 10:31, L.W.