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Komisches, Kritisches, Unerhebliches aus Lino Wirags Text-Bild-Werkstatt. Quasi täglich.

transeuropa 2009

Europa in niedersächsischen Hinterhöfen
Die junge europäische Theaterszene trifft sich in Hildesheim


Zuerst ist alles Nebel. Schuld sind die Belgier, die drei jungen Belgier. Sie waten durch den Nebel, versuchen, einander zu finden, sich selbst zu finden, irgendetwas zu finden in dem ganzen Nebel. Die drei Belgier haben Mark Z. Danielewskis gespenstisches Literaturexperiment „House of Leaves“ in einem leerstehenden Hinterhofhaus nachgebaut – und wer ihr Stück sieht, bekommt eine Ahnung davon, wie es um die junge europäische Theaterszene bestellt ist: Neblig, und auf der Suche nach sich selbst.
„Know Some Call Is Air Am“ war am vergangenen Donnerstag einer der ersten Produktionen des Hildesheimer Theater- und Performancefestivals „transeuropa2009“. An sieben Abenden kommen noch bis zum 20. Mai mehr als zwanzig Arbeiten zur Aufführung, von Wolfram Sanders One-Man-Band, die mit „Licht-Cues und Sound-Effects“ den Gesang der Sirenen reanimiert, bis zu Ana Vujanovic und Saša Asentic aus Belgrad, die in einer Performacelesung die (bislang unbekannte) Geschichte der serbischen Tanzszene kritisch rekonstruieren. Dass das mittlerweile sechste „transeuropa“-Festival den Subkontinent nicht umsonst im Titel führt, zeigt der Blick auf die Gästeliste: 2009 sind junge Künstler aus Belgien, Serbien und der Türkei nach Niedersachsen eingeladen. Aber die europäischen Interessen werden auch im Rahmenprogramm wahrgenommen: In sogenannten Bürgersitzungen diskutieren Zuschauer und Experten wie Michael Buckup, ehemaliger Meinungsforscher der EU, im Rathaussaal über die Zukunft der europäischen Theaterlandschaft. Fragen wie „Wenn Europa eine Farbe hätte, welche wäre das?“ sind dabei keine Seltenheit.



Abends sind es vom Tanzworkshop zur Trashparty nur wenige Luftminuten: Das Festival bespielt die Stadt. Die Eröffnung findet auf dem Marktplatz statt, inmitten grell historisierender Bauten aus den achtziger Jahren, von dort aus erobern die Produktionen Kirchen, Rockclubs und das Rathaus. Das Festivalzentrum hat sich in einem ehemaligen Berufsinformationszentrum festgesetzt, einen Backsteinbau, der auch Filmlounge, Archivzimmer und die festivaleigene Zeitung „transport“ beherbergt. Dass „transeuropa“ ein studentisches Festival ist, merkt man erst beim Blick auf den Spielplan, so ausgeklügelt kommen Programmatik und Corporate Identity daher. Hildesheim lockt mit einer praxisnahen kulturwissenschaftlichen Ausbildung, auch die Organisatoren des Festivals rekrutieren sich aus diesem fast kostenlosen Kreativpool. Also ist spät abends „WG-Hopping“ angesagt, mit „Pokerrunden und Kochwettbewerben“, und Parties, natürlich, zur „praktischen Grenzüberwindung“. In der kleinen Großstadt können es sich die Festivalmacher leisten, nicht in den Mustern des Kulturbetriebs zu denken, ihrer Begeisterung für Theorie, für Hintergründe, ungewöhnliche Formen und Details freien Lauf zu lassen. Schon das Motto verrät den gefühlten Grad der Auseinandersetzung: Um Grenzen soll es dieses Jahr gehen – „What's your border worth?“ fragt das Festival Künstler und Besucher –, am besten gleich um all die „territorialen, sozialen, kulturellen und individuellen Absperrbänder“. Das ist viel.
Und wirklich: Auf den abendlichen Parties treffen sich die Belgier, die Serben, die Deutschen, die Türken, und sprechen über ihr Theater, und darüber, dass die europäischen Grenzen nur noch in den Köpfen bestehen. Für „transeuropa“ können keine großen Namen eingekauft werden – entstanden ist deshalb ein Festival, bei dem die jüngste Generation von Theatermachern zusammentrifft, die in ein paar Jahren vielleicht den europäischen Theaterdiskurs mitbestimmen werden.
Denn wie gesagt: Zunächst liegt noch alles im Nebel. Erst langsam setzt er sich, gibt den Blick frei auf eine junge, europäische Szene, die noch viel vorhat.

JAN FISCHER, LINO WIRAG
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