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Komisches, Kritisches, Unerhebliches aus Lino Wirags Text-Bild-Werkstatt. Quasi täglich.

Kreativität und Krise

Ein kurzer, datensatter Essay, in ähnlicher Form in der nächsten Ausgabe des Lichtwolf:

Die Zukunft wird in der Ideenschmiede gepunzt
Wie die Kreativen die Wirtschaft retten


Jean-Remy von Matt war am Drücker. Vor zwei Wochen jammerte der Edelwerber mit Professur via Spiegel, dass in Zeiten wirtschaftlicher Not immer am Wichtigsten gespart werde: seiner Branche nämlich. Er empfahl Humor gegen schlechte Kauflaune. Das Unterwäschelabel Bruno Banani bewies auf einem Großplakat prompt, dass Spitzenpolitiker auch in bunter Unterwäsche gut dastehen. Branchenkollege Stefan Kolle sah's anders: Nicht der „lustige Werbefuzzi“ sei gefragt, sondern „Berater mit kreativer unternehmerischer Intelligenz“, die Werte vermitteln, kurz: „politisch und gesellschaftlich denkende Menschen“. Das war neu.
Die Werbebranche zwingt sich zum Umwerten, vor allem natürlich aus wirtschaftlichen Gründen: Laut Handelsblatt kappt jeder zweite Werbetreibende in diesem Jahr seinen Etat. Und doch: „Werte sind gefragt – die Kunden wollen wissen, ob eine Marke ihr Leben bereichert“, glaubt Frank Dopheide von der Agentur Grey. Werbung, die in schlechten Zeiten erbaut statt zu nerven: Das klang fast zu schön, um wahr zu sein. Die Branche, die sich vorwiegend als letzter Statthalter des schönen Scheins feiert – so beim pompösen Jahrestreffen des Art Directors Club –, soll auf einmal Verantwortung übernehmen? Die Kreativen schaffen neue Werte, bieten Orientierung in veränderter Umgebung. Weil grad niemand anderes kann – oder Vertrauen genießt. Und sie haben nicht den schlechtesten Zeitpunkt gewählt.



Die weltweite Wirtschaftskrise, Kurzarbeit und Exportnot zwingen Hersteller und Logistiker zu einer Atempause. Nur die Berufsdenker haben jetzt noch zu tun. Oder: gerade jetzt. Sie nutzen ausbleibende Aufträge, um frei vom Wettbewerbsdruck Ideenreserven für die Zeit nach der Krise anzulegen, und handeln damit intuitiv gut keynesianisch. Wenn Immobilienpreise abstürzen, Spareinlagen versickern, ist kreativer Rat wertvoll. Nicht nur, um mit lustigen Facebook-Applikationen von der kargen Wirklichkeit abzulenken. Auch weil Ideen – im Gegensatz zu Autos, Unterhosen und Porzellan – keinen Lagerplatz wegnehmen. Gute Gedanken fangen nicht an zu schimmeln, wenn man sie in einem Frachtschiff liegen lässt. Und sie sind vergleichsweise billig herzustellen, in Notfall ganz analog mit Stift und Papier. Die Arbeit des frühen 21. Jahrhunderts wird ohnehin immer immaterieller, sie bringt inzwischen mehr Marken als Güter, mehr Lebensmodelle als Konsumwelten hervor. Die Journalistin Mercedes Bunz, Fachfrau für moderne Weltaspekte, schreibt: „Das Produkt steht nicht mehr im Mittelpunkt der Kreativität.“ Und auch nicht mehr dessen Herstellung und Vertrieb. Sinkenden Mieten und Ausgaben für Lebensunterhalt und Arbeitsmaterial erleichtern Neugründungen gerade in der Krise. Budgets werden kurzfristiger vergeben, so dass auch schnelle, schmutzige Ideen, unkonventionelle Formate und kleine Fische ihre Chance bekommen. Die ganze „kreative Klasse“, die ihr Erfinder Richard Florida in den USA auf mindestens 40 Millionen Menschen - und das heißt: Arbeitsplätze -schätzt, klammert sich tapfer fest. „Recession is the mother of invention“, behauptet der selbsternannte Wirtschaftsweise Florida und verspricht mehr als 10 Millionen neue Jobs in den „creative industries“ der nächsten Dekade. Er sieht die Krise als Chance für einen Neustart, als „great reset“, den vor allem die Kreativen in einem Prozess des „urbanen Metabolismus“, der einen Stoffwechselkreislauf aus Geschwindigkeit, Innovationsdichte und Wachstum verspricht, leisten sollen. Florida glaubt, dass sie ausersehen sind, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Zukunft zu konturieren.
Die Zahlen scheinen ihm Recht zu geben: Am 11. Mai 2009 schwärmte die amerikanische Forbes von einem „Triumph“ der Kreativarbeiter, die von der Präsidentenwahl vergleichsweise stark profitiert hatten. Michael Mandel, Chefökonom der BusinessWeek, rechnete vor, dass die Arbeitsplätze in den traditionellen Wirtschaftsbereichen der USA (Produktion, Konstruktion, Transport) im Jahr 2008 um 1,8 Millionen geschrumpft waren, während in der Kreativwirtschaft mehr als 500000 Jobs entstanden. Selbst Deutschland, Wiege einer hochsubventionierten Kulturlandschaft, hat gute Nachrichten für die schöpferischen Privatwirtschaft. „Die Kultur- und Kreativwirtschaft hat gegen den allgemeinen Trend im Jahr 2008 positive Wachstumszahlen geschrieben“, stellte der Forschungsbericht „Kultur- und Kreativwirtschaft“ des Bundeswirtschaftsministeriums im Februar fest. Die Geistesarbeiter stehen auch deshalb nicht schlechter da als zuvor, weil sie sich so schnell nicht kopfscheu machen lassen: wirtschaftliche Zitterpartien, niedrige Einkommen und menschenwidrige Arbeitszeiten kennen die vielen Einzelkämpfer der Branche schon aus Zeiten vor dem Einbruch.
Skeptische Nachfragen werden allerdings nicht lange auf sich warten lassen: Wie sollen ausgerechnet Werbetexter, Philologen und Feingraveure einer Weltgesellschaft helfen, wieder zu sich zu finden, sind sie nicht selbst Nutznießer (oder im besten Fall Zierrat) eines erkrankten Wirtschaftssystems? Wie kann der postfordistische Arbeitsmarkt aussehen, wenn die Deutschen, wie SAP-Gründer Hasso Plattner glaubt, den Kapitalismus gar nicht mehr wollen, sondern „was anderes, Netteres“? Die Kreativen versuchen, Antworten zu liefern, vor allem im Interesse ihrer eigenen Zunft – und Zukunft.
Zum Beispiel Sascha Lobo: Der ehemalige Werbetexter ist inzwischen Freiberufler, Vielblogger, und führt bisweilen die Twittercharts an. Seine Bücher (für Lobo im Verschwinden begriffene „Holzmedien“) verheißen nicht weniger als eine Generalrevision der bestehenden Arbeitsverhältnisse aus Bürotürmen und Sekretärinnenkummer. Mit dem Buch „Wir nennen es Arbeit“ etablierte er zusammen mit Holm Friebe 2006 den Begriff der „digitalen Bohème“, anderswo als urbanes Mit-Mac-bei-Starbucks-Prekariat belächelt. In „Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin“ legte er mit Kathrin Passig dar, wie Erfolg auch von Nichtstun kommen kann. Auch der erwähnte Friebe hat Visionen: In seinem aktuellen Buch ,,Marke Eigenbau“ hofft er auf den „Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion“, auf die Wiederkehr des Selbermachens im Antlitz seelenloser fernasiatischer Plastikprodukte. Wie in solchen zu-spät-kapitalistischen Utopien die Leistungsethik, der „animal spirit“ der Wettbewerbsgesellschaft, vom Tisch gewischt oder zumindest mit dem Versprechen auf eine individualisierten Arbeitswelt aus Flow und Frappuccino abgedämpft wird, macht Hoffnung. Und Spaß. Lobo und Kollegen führen vor, wie neue Lebens- und Arbeitsmodelle aussehen könnte – freilich vorerst nur für eine kleine Elite, die ihre Avantgardeposition nicht nur selbst behauptet, sondern auch clever vermarktet.
Die Aufmerksamkeit für die Lobos dieser Welt wird nicht auf sich warten lassen – schließlich gibt es viele Unternehmen, die beim nächsten Mal besser vorbereitet sein wollen. Sie haben mit Stanford-Ökonom Paul Romer ihre Lektion gelernt: „A crisis is a terrible thing to waste.“

LINO WIRAG
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