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Komisches, Kritisches, Unerhebliches aus Lino Wirags Text-Bild-Werkstatt. Quasi täglich.

Heute ist Jagdtag.

Heute ist Jagdtag. Die Schwester steckt die Zöpfe fest. Sie macht es nicht wie die anderen Mädchen im Dorf mit bernsteinfarbenen Haarklammern oder solchen aus Schildpatt, die bedrohlich glimmen beim Spaziergang übers nächtliche Feld, sondern mit Stecknadeln, schmal wie Bleistiftstriche. Die Köpfe der Stecknadeln sind basaltrot, moosgrün, weiherblau. Die Schwester benutzt Stecknadeln, weil sie das Geld spart. Für ihre Hochzeit, sagt sie. Dafür und für einen guten Mann. Ich bin nicht schnell genug, um zu lachen. Also halte ich den Mund, eine Familientradition. Jetzt rückt die Schwester an ihrem Dutt, der wie ein Blumenkohl zwischen den Zöpfen aus ihrem Hinterkopf wächst, er ist ganz übersät von winzigen roten, grünen, blauen Augen. Dann zuckt sie zusammen, jetzt hat sie sich endlich gestochen, jetzt darf ich doch einmal lachen. Ein schmaler Blutstrich rennt ihren Nacken hinab, der Kragen saugt alles auf. Ein Geräusch nicht. Doch, dann, dann verzieht sie den Mund, er verbiegt sich wie ein schlecht gezogener Strich, auch gerät die Nase in das Zittern eines sterbenden Hasens, das ganz unerträglich ist. Sicher leidet die Schwester nicht unter Schmerzen (gegen körperlichen Schmerz sind wir hier unempfindlich), sondern beim Gedanken daran, dass sich das Blut nicht wird entfernen lassen aus dem gallweißen Blusenkragen. Schon will sie kurz, einmal nur, aufschluchzen, da ramme ich ihr die Faust in die Schulter. Die Schulter gibt nach, wie eine Zwetschge. Die Schwester fährt herum.
Seid ihr bald fertig, ihr zwei?
Vaters Schatten beult die Tür aus. Er sieht aus wie eine Eiche, vor allem sein Rücken, der gerade ist und breit, aber auch seine Haare, die sich im Geäst oberhalb des Türrahmens verlieren. Vater hat sich das blattgoldgefasste Dreikaliber übergehängt, der Lederriemen schneidet in sein Brustfleisch, ich denke an Paketschnur, die einen Rollbraten abbindet, den fettigen Bratenschweiß aufsaugend. Die Muskete mit den Bronzebeschlägen reicht er mir. Sie ist ganz von Grünspan überwachsen. Ich weiß, sie hat Großvater gehört. Großmutter berichtet davon, wie er mit nur einem Schuss aus ihrer schmalen Öffnung das Gesicht von zwei Korsarenköpfen schoss. Später bekam er dafür einen kranzförmigen Orden aus rotem Achat, mit einem blauen Bändchen aus billigem Leinen, der jetzt über dem Kamin graumeliert. Ich spüre die Muskete als Knoten aus Metall in der Faust. Ich muss an Großvaters Heldentod denken, an seine letzten Worte, die wir als Kinder vor wiederholen mussten, bevor uns die Bettdecke über den Kopf gezogen wurde. Großmutter lauschte uns jeden Abend den korrekten Sitz der Sätze ab. Dem Thron entgegen, so soll Großvater gerufen, nein gebrüllt haben, bevor er von den Kanonenkugeln der Türken in fünf Teile zerissen wurde. Wir wissen nicht, wie diese Worte auf uns gekommen sind, denn aus der Schlacht kehrte nicht ein Mann zurück, und heute argwöhne ich, dass Großmutter sich die Heldenworte nur ausgedacht hat, um sich in den Jahren zwischen den Reichen einen Vorteil bei den Monarchisten zu verschaffen. Doch klingen die Worte heroisch, und ich bin sicher, hätte Großvater einen Grabstein bekommen, wir hätten sie dort wiedergefunden. Jetzt zwickt mich doch eine Träne im Auge, pinienkernschmal, aber ich will nicht, dass der Vater oder die Schwester etwas merken. Ich trete ans Fenster und gebe vor, die Muskete zu überprüfen, obwohl ich sie erst vor drei Tagen auseinandergebaut und jeden Verschluss mit Walnussöl geschmiert habe.
Vater und ich haben nun Waffen. Was aber bekommt die Schwester?
Ich blicke hinaus, die Birken starren aus schwarzen Rindenlöchern zurück. Ich strecke die Hand aus, etwas zu schnell, kalt schlägt sie gegen das Glas, das Handgelenk knickt nach unten. Der Schmerz, der durch einen Zusammenstoß mit Glas hervorgerufen wird, hat eine besondere Qualität: Es ist ein metaphysischer Schmerz, er spielt sich im Kopf ab, nicht im Körper. Es ist immer ein Erschrecken darüber, dass man sich von dem Material hat täuschen lassen, einen Augenblick nur zu denken, es sei nicht vorhanden.
Jetzt konzentriere ich mich, ich versuche, das Glas tatsächlich zu sehen, als Form wahrzunehmen. Es schimmert fahl, wie eine Leuchtstoffröhre. Ich denke, das Fenster sei schmutzig, aber es ist das Licht, oder besser, die seltsam gepresste Verdickung des Lichts, die den Eindruck hervorruft. Als Spinnweben hängt das Licht zwischen den Zweigen der Birken vor dem Haus. Es zieht sich als Läufer über die Fliesen. Immer noch ist es so kalt, dass der Himmel kein Wasser hat, um es zu Wolken zusammenzuballen. Wenn die Außenbedingungen so bleiben wie jetzt, werden wir nicht auf die Jagd gehen können. Die Gefahr wäre zu groß. Groß genug ist sie. Ich halte mir die Hand vors Gesicht, sie hängt jetzt vor dem Fenster wie ein Stück Fleisch an einem Haken, und auch sie wird sofort fahl, trübe und faltig. Wie Großvaters Haut, denke ich, Dem Thron entgegen, denke ich, und schon sind die Tränen wieder da. Ich schnäuze mich vernehmlich in die Hände, es klingt wie eine Erkältung, den restlichen Rotz ziehe ich hoch, bevor ich mich umdrehe.
Der Vater hantiert in der Küche. Er stochert mit einer rußigen Eisenstange im Ofen herum. Vater überprüft, ob die Glasur der Kugeln schon getrocknet ist. Ganz giftig sehen sie jetzt aus, marzipangrün, und ein sanfter Schimmer hat sich auf sie gelegt.
Die Schwester packt einen Korb. Das Blut auf ihrem Hemdkragen sieht schon aus wie ein textiles Ornament. In den Korb legt sie: ein Brotmesser, eine zusammengefallene, blaugelbe Gurke, ein kleines Glas mit Kräutern. Außerdem ein Buch, von dem ich den Titel nicht erkennen kann, nur den Ledereinband, der ockerfarben ist und zerdrückt. Zwischen den Seiten stecken Papierzettel, auf die die winzige Handschrift der Schwester schwarze, akkurate Notizen gestanzt hat. In dem Buch, so denke ich, stehen antikische, vielleicht nekromantische Beschwörungsformeln, Anrufungen der Geister über den Wassern. Ich will das Buch herausnehmen, als die Schwester den Kopf hebt. Sie hat den Blick auf mich gerichtet, das heiß, nein, eigentlich blickt sie über mich hinweg, in das bläuliche Tanzen der Gardinen vielleicht. Ihre Augen sind weiße Murmeln, durchzogen von roten Adern aus Travertin.
Vater ist vom Herd zurück. In dem kleinen Ledersäckchen an seiner Hüfte klingeln die Kugeln. Er klopft dagegen, ein Glockenspiel aus Knochen. Tante Vera möchte uns etwas mitgeben, sagt Vater. Er seufzt. Bezieht sich das Seufzen auf Tante Vera, ihr Mitbringsel oder die Jagd bezieht, die bald bevorsteht? Der Korb, den Vater von seiner Schwester bekommen hat, ist aus schwarzen Weidenblättern geflochten und sieht aus wie ein chtonisches Panzertier. Vorsichtig lüfte ich das rotkarierte Tuch, das den Korb bedeckt. Zuerst denke ich, dass darin ein Laib Brot liegt, doch dann erkenne ich, was es ist. Ich will etwas sagen. Die Schwester ruft nur Igitt und wendet dann den Blick ab. Ich habe diese Methoden nicht gerne, doch Vater und Tante Vera vertrauen darauf, vor allem jetzt, da es auf die Jagd geht. Ungewöhnliche Umstände rechtfertigen ungewöhnliche Maßnahmen, sagt Vater mit seiner Holzfällerstimme und schlägt das Tuch wieder über den Korb. Ich schweige und hoffe, dass er es als Missbilligung auffasst. Zieht die dicken Stiefel an, Kinder. Draußen ist es noch zu kalt. Der Atem kristallisiert in der Luft, zerlegt sich in eine Wolke aus glänzenden Edelsteinen, deren Funkeln in den Augen sticht. Die Schwester hat jetzt ihren Korb gepackt und beginnt sich anzuziehen, wie ein Buch, Blatt für Blatt. Der Vater überprüft die Patronen seines Dreikalibers, das mit seinen Intarsien aussieht wie ein heiliger Knotenstock. Die Patronen sind rot, nur an der Spitze glänzen sie weiß. Darunter sind sie aus Blaustahl, dem härtesten bekannten Material, gleich nach Diamant. Vater lässt jede einzelne Patrone in seiner rindigen, holzharten Handfläche hin und her rollen. Die Patronen sind schwer und glänzen wie winzige Tschinellen. Wenn er sie wieder in den Dreikaliber schiebt, schmeckt das Geräusch nach Paradierlaune und Asche.
Welche Aufgabe wird die Schwester bei der Jagd übernehmen? Normalerweise ist sie für die Nacharbeit zuständig, für das gelbliche Ausnehmen, das Tranchieren der Fettknoten, das Abbalgen, das Durchschärfen der Gehörknorpel und Durchtrennen des Nasenschwamms gehört zu ihren Pflichten, ebenso wie das Abstopfen und Vernähen. Doch diesmal wird es keine Nacharbeit geben.
Diesmal geht es nicht um Fell, Fleisch, Fett.
Vater hat für sich nur die leichten Stiefel aus dem Schrank genommen, obwohl alles meterdick verschneit ist. Die leichten Stiefel machen weniger Geräusche, außerdem kann man in ihnen schneller rennen. Ich frage mich, welche meiner Jacken am wenigsten knarrt, wenn die Ärmel am Torso reiben. Die grüne mit den roten Streifen würde ich gerne tragen, aber sie ist aus Plastik. Eine gute Jacke, um darin zu sterben. Man sieht wenigstens schick aus. Ich lache über mich selbst, aber als die Schwester und der Vater sich umdrehen, täusche ich einen Hustenanfall vor. Wir brechen auf, sagt der Vater.
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