Das nicht so gestrichene Kapitel
... aus dem großen Wildwestroman "Der große Elefantentrieb von 1855" (Fischer, Maas, Strasser, Wirag)
Bill Weston, Duke Headshot, Jack Barringer.
Drei Namen, wie sie hier auf jedem Grabstein standen. Und die Männer, die diese Namen trugen, tranken jetzt, als müssten sie auch so schnell wie möglich nach Hause ins warme Grab kommen. Im Hintergrund spielte ein kleiner Junge mit einer Ottofrisur Chopins Nocturne in Es-Moll. Das wäre beachtlich gewesen, wenn das Klavier nicht alleine weitergespielt hätte, als der kleine Junge aufstand, um sich ein Bier zu holen. Auf einer speckigen Schieferplatte wurde für den Abend ein Cancan mit Stripbeilage, dargeboten von der Nachwuchkünstlerin Justine de Sade, angekündigt. Über der Tür hing ein dämonisch lächelnder Büffelschädel, vielleicht war es auch nur der Kopf einer der wirklich, wirklich großen Ratten, die sich Gänge in den Kompost frästen, der sich zwischen den Tischen absetzte. Er bestand vor allem aus schimmelnden Erdnussschalen, Spielkarten, geronnenem Speichel und anderen organischen Abfällen, wozu auch tote Hunde zählten. Das Ambiente war perfekt.
„Weißt du, was ich an dir schätze, Kollege Jack?“, fragte Bill, dem die Zunge schon schwer in der Mundhöhle rollte, und brachte es fertig, gleichzeitig zu rülpsen. „Dass du ein ehrlicher Mann bist. Jemand anderes hätte uns einfach über den Haufen geka–, geknallt, sich die Elefanten unter den Nagel gerissen.“
Hier legte Bill eine Pause ein, um den Nagel seines linken kleinen Fingers zu betrachten, als sinne er darüber nach, ob so eine Elefantenherde darunter tatsächlich Platz hätte. Benommen schüttelte er den Kopf.
„Schließlich“, lallte er fort, „ist auf unseren Freund hier“, mit diesem Satz klopfte er Duke Finnigan auf die Schulter, der seinen Stuhl von ihm fortrückte, „ein nicht ganz geringes Kopfgeld ausgesetzt, wenn ich richtig verstanden habe.“ Bill wollte gerade in sabbelndes Gelächter ((Gelächter)) ausbrechen, als sich Duke Headshot plötzlich sehr laut räusperte und Bill Weston seine rechte Gerade gleichzeitig dermaßen ins Gesicht stempelte, dass dessen Nase hörbar eine neue Ausdrucksform fand. Schon war Duke aufgesprungen. „Oh Verzeihung, was für ein unglücklicher Ausrutscher“, rief er laut und griff Bill Weston unter die Arme, um ihn wieder auf seinem Stuhl zu bugsieren. Dabei zischte er ihm ins Ohr: „Halt bloß deine verdammte Schnauze! Wer weiß, wem wir hier überhaupt trauen können?“
Er ließ Bill unsanft auf seinen Stuhl fallen, der sich unter plötzlich ganz nüchternen Unmutsbekundungen die Nase zusammenpuzzelte. Duke Finnigan blickte sich instinktiv um. Links hinten saßen zwei Alte und besprühten sich beim Gestikulieren gegenseitig mit Speichel. Rechts von ihnen hatte sich ein Mann niedergelassen und blätterte in der Mammoth Lake Quarterly von letztem Jahr. Das war seltsam. Zum Lesen kam eigentlich niemand hierher. Duke stellte seinen Stuhl wieder auf und pulte ein Zigarillo aus seiner Brusttasche.
Jack Barringer hatte die Szene interessiert verfolgt. Jetzt deutete er mit dem Kinn auf Bills Nase: „Na, ist doch hübscher als zuvor“, sagte er und schniedelte. Bill schnaubte und betrachtete seinen Balkon (Word-Synonym-Funktion), aus dem Blut in seine Pfeife tropfte, die jedesmal giftig zischte. Jack wandte sich an Duke: „Wo waren wir?“
Der Duke legte einen Finger auf die Lippen und beugte sich nach vorne, die anderen beiden taten es ihm nach. Nun hatten sie eine Einzelumkleide. „Ich glaube, man beobachtet uns.“ Er wies mit dem Kopf vorsichtig in Richtung des Zeitungslesers, vor dem ein Glas Bier abstumpfte.
„Ist doch Unsinn!“, sagte Jack Barringer etwas zu laut.
„Leise“, zischte Duke Jr. jetzt, „ich erkenne es daran, dass er sich das Gesicht mit Schuhcreme schwarz eingeschmiert und ein riesiges Loch in seine Zeitung geschnitten hat, durch das er uns die ganze Zeit anstarrt. Und er hat ein Schild auf der Brust!“
„Jetzt sehe ich es auch“, befand Jack Barringer verblüfft.
Auch Bill Weston konnte es sich nicht mehr verkneifen, einen Blick auf den fremden Gast zu werfen. „Peter Schneider, Ungeziefervertilgung“, las er von dem Schild an dessen Brust ab. „Klingt französisch“, befand er fachmännisch.
„Quatsch, das ist deutsch!“, zischte Jack Barringer.
„So deutsch wie Ha…“, wollte Duke Headshot gerade einen Satz beginnen, als auf der Bühne das Licht anging.
Und plötzlich glaubten sie, all ihren Schmerz zu vergessen, Bill den in seiner Nase, Duke den in seinem Geldbeutel, Jack Barringer den beim Wasserlassen.
Denn gerade war ein Engel zu ihnen herabgestiegen.
Wer fünf Tage mit einer Herde Elefanten unterwegs gewesen war, für den wirkte jeder Körper schmal und zerbrechlich. Doch dieser hier war wie eine Porzellannektarine. Wenn dass kein Engel war, dachte Bill Weston – ein Engel in einem roten, schmutzignuttigen Kostüm – ein Engel mit offensichtlich dick angemalten Bäckchen und schlampig aufgeklebten Wimpern – ein Engel, mit einer Laufmasche, so breit wie ein Schienbein – ein Engel, vor dessen Gesicht gerade die Blase eines farbleer gekauten Kaugummis zerplatzte – das war kein Engel.
Und doch. Wie sie da auf die Bühne stand. Die Rüschen perlten um ihre Hüften wie eine Sahnehaube um eine Puddingfüllung. Einen Moment lang konnte Bill kaum glauben, was geschah. Er kannte diese Frau. Sie war tot gewesen. Tot – für ihn.
Die andern merkten nichts. Duke Finnigan lutschte mit seiner grobporigen Zunge seine Zahnlücken aus und machte erigierte Geräusche. Jack Barringer gab sich pubertär und schlug immer wieder von unten gegen die Tischplatte, womit er einen Masturbationsvorgang zu simulieren trachtete, den er „den kahlen Mann zum Weinen bringen“ nannte.
„Haltet euer Maul!“, rief Bill und hämmerte seine Faust auf den Tisch, ohne den Blick von der Bühne zu wenden.
„Immer ruhig mit dem jungen Hengst“, sagte Jack Barringer und punchte Bill in die Schulter. „Man könnte fast meinen, du hättest was mit der Alten.“ Dann lachte Jack pornös und zeigte auf seinen Schritt. „Willste mal meinem einäugigen Milchmann die Hand schütteln?“
Aber Bills Augenbälle füllten sich mit Flüssigkeit. “I love thee with the passion put to use / In my old griefs, and with my childhood's faith. / I love thee with a love I seemed to lose / With my lost saints, I love thee with the breath, / Smiles, tears, of all my life! and, if God choose, / I shall but love thee better after death”, murmelte er.
„W’s?”, polterte Duke dazwischen. Er war kein Mann der Muse, obwohl er einen coolen Mantel trug.
„Elizabeth Browning“, hauchte Bill tonlos.
„Ein loser Brownie? Wo?”, fragte Duke absichtlich doof. Dann verstand er. Er zeigte in Richtung der Bühne. „Das da, das ist – Chlamydia –!“
„CLEMENTINE! Clementine Darling: Die süße Frucht“, hauchte Bill, „ihre sanfte, raue Schale, ihr saftiges Inneres, ihre kernlosen, unergründlichen Feuchtgebiete …“
„Komm wieder runter, Mann!“, rief Jack Barringer und spuckte zielsicher auf einen Hund, der irgendwo herumstand. „Die sieht doch aus wie ’n Typ!“
Bill blickte zur Bühne. Clementine Darling warf ihre drahtdünnen Beine in die Luft, aber immer so, dass der Bausch ihres roten Tüllröckchens mehr verriet als verbarg. Dazu lachte sie ein kehliges Lachen, das alle Zigarettenstummel dieser Erde gefressen zu haben schien. Zwischendurch brach sie in eine Art Bassgesang aus: „Ich bin die fesche Lola, der Liebling der Saison! Ich hab' ein Pianola zu Haus' in mein' Salon.“ Sie kannte nur diese eine Zeile, weshalb sie sie immer wiederholte. Das Klavier spielte dazu „In der Halle des Bergkönigs“ aus Griegs Peer-Gynt-Suite, wobei der kleine Junge mit dem Kopf auf die Klaviatur gesunken war und im Schlaf zuckte, wenn ihm das hohe Fis gegen die Nase knallte. Auf Clementines etwas zu eckigen Wangen lag ein bläulicher Schatten, wie bei Männern, die sich morgens nicht richtig rasierten.
Duke biss den Hintern eines Zigarillos ab, erhob sich, trat auf einen Hund, stolperte, fluchte, verschluckte eine Erdnuss. Dann hatte er sich zur Bar durchgekämpft, wo ein schmutziger Chinesen mit geflochtenem Kinnbart als Charon über die alkoholischen Giftströme wachte, die von hier aus in durstige Kehlen strömten. Duke Headshot Finnigan-Ole-Heinrich Jr. zeigte auf ein Geldstück, das er auf den Tresen legte, dann auf Clementine Darling, die sich jetzt eine obszön lange Zigarette angesteckt hatte, bevor sie auf die Schnapsidee einer Stepptanzimprovisation verfiel. Zuletzt zeigte Duke auf den Tisch, an dem Jack und Bill mit zusammengebissenen Zähnen versuchten, Clementines tänzerische Shitparade zu gut wie möglich zu ignorieren.
„Was hast du dem Chinaman gesagt?“, forschte Jack, „dass wir nachher auch auf die Bühne gehen, weil wir besser steppen als der Marshmallowman da oben?“
„Quatsch“, schnauzte Duke und setzte sich. Ihm war etwas aufgefallen. Er drehte sich herum: Aber der Schuhcremeträger vom Tisch nebenan … war verschwunden.
Clementine hatte ihren Auftritt fast hinter sich gebracht. Zum Schluss warf sie erst ihre haarigen Beine, dann drei Bälle in die Luft, von denen sie immerhin einen wieder fing. Einer fiel auf einen Hund und einer blieb, den Gesetzen der Schwerkraft zum Trotz, in der Luft verschwunden. Bill hielt schon seit einigen Minuten den Kopf gesenkt und schirmte die Augen mit den Händen ab. Müder Beifall erklang, als sich Clementine Darling schließlich mit einem Kinderschokoladenlächeln verbeugte. Der Beifall wurde etwas lauter, als sie die Verbeugung wiederholte und diesmal nicht vergaß, ihr gut gestopftes Büstier mit beiden Händen kräftig zu schütteln.
Dann verließ sie die Bühne über eine seitliche Treppe. Der Chinese gab ihr mit einem rostigen Messer ein Zeichen. Bevor Bill Weston sich versah, saß seine große Liebe zwischen seinem Piraten-Partner Duke, mit dem man Elefanten stehlen konnte, und einem Kopfgeldjäger, den sie in der Wüste aufgegabelt hatten, am Tisch.
Bill wurde steif wie eine Zuckersäule. Clementine nahm die Situation gelassen. Sie hatte ihn schon von der Theke aus erkannt, denn es gab im Wilden Westen nicht viele Männer, die ihre Pfeife mit einem pinkfarbenen Pfeifenstopfer stopften.
„Ich mag Ihr Kleid“, sagte Duke und deutete eine Verbeugung an, indem er aufstand, knickste und dabei auf einen Hund trat. „Aber noch lieber würde ich sie im Kleid der Liebe sehen …“
„Und wie sähe dieses Kleid wohl aus?“, fragte Clementine und kitzelte mit dem Finger das flauschige Damenbärtchen, das sich unter ihrer großen Nase gesammelt hatte.
„Das Kleid der Liebe ist unsichtbar“, sagte der Duke und lächelte klebrig, bevor er überflüssigerweise „Ganz nackt!“ hinzufügte. Dann war Jack Barringer an der Reihe, ein Kompliment zu machen. Er klopfte Clementine auf die Nussknacker-Hinterbacken und sagte: „Siehst wie n netter Kerl aus. Ein Kerl, der mir gerne mal was auf der Fleischflöte vorspielen dürfte, Schluckelinchen!“ Clementine kicherte mädchenhaft: „Du Schelm, du!“
Nur Bill hatte noch nichts gesagt. Clementine stützte sich auf ihre Ellenbogen und beugte den Kopf zu ihm herunter. Sie wischte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, als gäbe es dort eine Schreibe zu putzen.
„Bill, he, Billyboy! Kennst du mich nicht mehr?“
„Natürlich kenne ich dich noch, Clementine“, sagte Bill pathetisch. Jedes Wort schien eigens für diesen Anlass gedrechselt. „Du hast mich damals gegangen, Dings, verlassen. Kurz nach dem … Sache mit Hans Müller.“
„Das ist gelogen“, sagte Clementine, Trotz und Ernst in ihrer Stimme. „Ich bin gegangen, weil du versucht hast, mich zu erschießen! Als Hans mich als menschliches Schutzschild nahm, in jener Winternacht. Um ihn zu kriegen, wolltest du mein Leben geben.“
„Ah, distinctly I remember / it was in the bleak December”, hob Bill Weston an. Und brach ab.
„Du wusstest, dass ich krank war“, fuhr Clementine fort. „Aber doch nicht krank genug, um mich über den Haufen zu schießen, um deinen niedrigen Rachegelüsten nachzuhelfen. Du reaktionäres, patriarchales Schwein!“
„Bill! Du kranke Wurst“, rief Duke Finnigan und lachte. „Du kannst ihn, äh, die Lady doch nicht so einfach abballern! Wo sind Sippe und Handstand geblieben, eh?“
„Vielleicht ging es ja um Geld“, versuchte Jack Barringer zu vermitteln.
„Und nur, weil dein“, ihr fiel das Wort nicht ein, „Schnapphahn sich verklemmt hatte, konntest du nicht schießen. Sonst hättest du mich kaltblütig ermordet. Und dann Hans!“
„So cruel fate should bid us part, / Far as the pole and line”, murmelte Bill Weston.
Clementine große, mit dickem Edding umrandete Augen füllten sich mit Tränen. Ein tiefes Schluchzen rumpelte aus ihrer Kehle. „Der liebe, gute Hans Müller“, schluchzte sie. „Er hat es doch nur gut gemeint.”
Die Whiskyfontäne, die jetzt aus Jack Barringers Mund schoss, war gute fünf Meter lang. „Hans MÜLLER?!“, heulte er und packte Clementine am Arm. „Wo ist er, du Slackerbitch?“ Mit der anderen Hand zog er eine große Shotgun aus seinem Rückenholster und lud einhändig durch.
„Ihr seid wegen ihm hier?“ Clementines Augen rissen auf. „Bill, ist das wahr?“ Sie starrte ihren Ex an, dem keine passende Gedichtzeile einfiel. „Oh, ihr Schweine! Ihr männlichen Chauvinistenschweine!“, heulte Clementine und riss sich aus Jacks Griff los.
Da ertönte eine Stimme.
Eine Stimme, die alle kannten.
Eine Stimme, die ihnen das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen, wenn sie nicht hoch und weibisch gewesen wäre.
„Ich bin hier, Liebling“, sagte die Stimme. „Keine Angst, das Gesindel siehst du nie wieder.“
Jack, Bill, Duke fuhren herum. Vor der Bar stand – Hans Müller. Er hatte noch einige Streifen Schuhcreme im Gesicht, so dass seine Augen grotesk hell aus seinem Kind-spielt-im-Kohlenkeller-Gesicht herausstachen. Hinter Hans Müller poppte der Kinnbart-Chinese hinter dem Tresen hervor. Er hielt ein großes Schwert in der Hand, das leise einen Blues sang.
„Das war also gar kein Neger“, sagte Jack terminologisch unbedacht. „Du hattest Recht, Duke! Das hier ist mein“, er knirschte mit den Zähnen, „Klient.“ Er lud die Shotgun noch einmal durch, natürlich einhändig. In der anderen Hand hielt er eine Stange Dynamit.
Hans Müller machte blitzschnell einen Schritt zur Seite – einen Schritt hinter Clementine Darling. Er legte ihr eine Hand auf den Bauch und ließ sie, für die drei Elefantenräuber gut zu sehen, hinauf zu ihrem Bustier wandern.
„Bevor ich euch kaltmache“, sagte Hans abtörnend, „will ich wissen, wo meine Elefanten sind.“
„Scheiß auf deine Elefanten“, rief Duke. „Die sind längst tot.“
„Verarsch mich nicht. Die stehen draußen angeleint an der Tränke.“ Hans’ Stimme legte Raureif über die Thekenkanten. „Das sieht jedes Scheiß-Kind.“
„Ein blindes Scheiß-Kind nicht“, meckerte Duke.
„Sogar ein taubstummes, blindes Kind im Scheiß-Rollstuhl“, giftete Hans, „weil es keine zwei Meter weit kommt, ohne gegen einen Scheiß-Elefanten zu pollern!“
„Warum fragst du dann, wo deine Elefanten sind?“, fragte Duke eingeschnappt. „Arschloch!“
„Meine restlichen Elefanten, meine ich.“ Müllers Augen blinzten wie Scheiß-Porzellan.
Duke Finnigan öffnete beide Fäuste, als wolle er ein Taubenpärchen hervorzaubern. Doch seine Hände waren leer. „Fort“, hauchte er und lächelte maliziös. „Vom Winde verweht.“
Nur Bill hatte noch nichts gesagt. Jetzt, da er endlich den Mund öffnete, brach sich die ganze Qual seines brennenden Herzens Bahn, jawohl!: „Clementine!“, schrie er, „wie konntest du mir das antun? Wie konntest du zum Feind überlaufen?“
„Weil ich einfach geiler bin“, lachte Hans Müller dämonisch.
„Nein“, schrillte Clementine. Auf einmal wurde es still. Selbst Jack hörte auf, seine Shotgun einhändig nachzuladen. „Eigentlich seid ihr gleich schlimm. Ihr wolltet mich beide erschießen. Bill, um seiner Rache zu frönen, Hans, weil er eine Geisel brauchte. Ich musste mich entscheiden. Doch die Entscheidung wurde mir abgenommen: Ich leide an einer seltenen Form des Stockholm-Syndroms. Als Hans mich als Schutzschild benutzte, bin ich ihm verfallen. Ich musste mit ihm gehen. Er gab mir ein Dach über dem Kopf. Einen Job. Wärme in der Nacht.“ Sie schwieg. „Er war mir ein Schutzschild“, seufzte sie und ließ sich an seinen Hals sinken.
„Nein! Das glaube ich einfach nicht!“, rief Bill Weston, krallte die Hand in sein Flanellhemd und ging theatralisch in die Knie.
„Krieg dich wieder ein, du Flenne“, höhnte Hans Müller und befummelte Clementines stabilen Körper extraaufwändig. Dann wandte er sich an Duke. „Und du, schaff mir meine Elefanten her, Joe!“
Das hätte er nicht tun sollen.
„Niemand nennt mich Joe!“, schrie Duke Headshot Finnigan Jr., griff in Bullettime kreuzweise unter seine Achseln, zog zwei gigantisch glänzende Doppelrevolver hervor und eröffnete sofort das Feuer, die Waffen waagerecht vor dem Körper.
Schon der erste Schuss traf.
Duke Headshot Finnigan Jr. schoss nie daneben. Auf Clementines Oberkörper, zwischen ihrem krausen Brusthaar, erblühte jetzt eine tödliche, dunkelrote Rose. Ihre Blätter fielen ab und zerflossen, bis sie Clementines spitzenbesetztes Büstier ganz durchtränkt hatten. Als sie auf die Knie gesunken war, den Mund halb offen, die Arme halb erhoben, sah man Hans Müller: Sein titanweißes Boss-Hemd hatte ein Loch, das sich nicht mehr flicken lassen würde. Die gleiche Kugel, die Clementine durchbohrt hatte, hatte auch ihn getroffen, mitten ins Herz, so dass sein Oberkörper im Rhythmus des immer langsamer schlagenden Organs seine letzte Flüssigkeit versprudelte. Wie ein kaputter Springbrunnen, der schließlich ganz versiegt. Dann versiegte auch Hans Müller, die Augen starr nach oben gerichtet, wo die Tore der Vergebung vor ihm zugeschlagen wurden. Und sein Herzblut floss in ihr Herzblut und ihres floss in seins. Und siehe, es war vollbracht.
Erst jetzt, da Bill merkte, was passiert war, konnte er endlich weinen.
„Und was machen wir jetzt damit?“, fragte Jack Barringer. Er hatte eine Stange Dynamit in der Hand. Die Lunte war in Brand. „Bist du wahnsinnig?“, kreischte Duke. „Gib das her!“ Er riss Jack die Stange aus der Hand und schleuderte sie ins nächstbeste Fenster, das krachend in Tausend Scherben zersprang.
„Moment mal“, sagte jetzt Bill. „Sind draußen nicht die El–“
Der Rest war – Lärm.
Und als der Lärm sich legte, war da noch mehr Lärm. Der Lärm von tausend Gewittern. Eine Menge Fleisch und Kraft und Geld verdammt noch mal, und eine recht präzise Vorstellung der Apokalypse. Die Elefanten rissen sich, erschreckt von dem Knall, los; und weil sie mit Hundeleinen an Laternenpfählen, an Telefonzellen und den Außenstützen des Saloons festgemacht waren, ging das alles zu Bruch. Laternen knickten wie Strohhalme, Hunde wurden zertrampelt wie Ameisen, nur dass es mehr spritzte. Verandadächer brachen herunter und begruben weitere Hunde unter sich. Die ganze Hauptstraße (strenggenommen gab es ohnehin nur die Hauptstraße) verwandelte sich in ein gigantisches Meer aus Staub, Steinen und Hundeleichen. Und nur ein Kinderwagen entkam wie durch ein ferngesteuertes Wunder der völligen Annihilation, als alle verbliebenen 103 Elefanten sich zwischen Häusern hindurchdrängten, Hinterhofmauern niederrannten, das Ortsschild auffraßen und das Gefängnis derart anrempelten, dass alle Gefangenen erschlagen wurden.
Waren alle 103 Elefanten fort? Nein.
Sophia, Sophia war natürlich geblieben.
Am nächsten Tag war Clementines Beerdigung. Alle waren in Schwarz erschienen, oder in Schwarz mit Staub. Jack hatte seine aufgesprungenen Lippen mit Melkfett eingerieben, Duke war mit Sophia aufgetaucht, der er einen Kranz aus weißen Lilien um den Kopf gewunden hatte. Sie konnte sich allerliebst neben dem Grab niederknien und zerdrückte dabei nur wenige andere Grabsteine. Die meisten Toten hießen ohnehin Joe. Bill Weston aber war wie verwandelt. Er war ohne Pfeife gekommen („Rauche nicht mehr“, sagte er nur), in einem magentafarbenen Nadelstreifenanzug. Auf seinen Wangen haftete eine kaum wahrnehmbare Spur Rouge, seine Lippen waren mit einigen Punkten Gloss betupft und seine Wimpern nur bei genauer Betrachtung mit Kohle nachgedunkelt. Auch roch er jetzt nicht mehr nach Dung, sondern nach weißen Lilien. Dazu hatte er sich ein schmales Freddy-Mercury-Bärtchen stehen lassen.
Der Pfarrer freestylte die Grabrede, in der er viel von Vergebung erzählte und dreimal das Vaterunser unterbrachte. Trotzdem waren alle zufrieden. Als jeder eine Handvoll Staub in den Grabkrater geworfen hatte, verkündete Duke feierlich: „Zu Ehren von Clementine Darling lege ich meinen alten Namen, Duke Finnigan Headshot Jr., ab. Ich heiße ab sofort Duke Finnigan Heartshot. Senior. Und niemand nennt mich Joe. Ey-men.“
„Ey-men“, fielen die anderen ein.
„Sie war doch ein Mann, oder? Komm schon, gib es zu.“ Der Duke hatte gute Laune.
„Von einem Elefantenhetero lasse ich mich nicht ausquetschen“, meinte Bill nur, verdrehte die Äuglein nach oben und wedelte sich mit einem Chiffonfächer Luft zu.
Dann hob er den Kopf, uns als sie aus dem Friedhof schritten, hub er zu singen an, mit einer Stimme, so schön, dass die Engel neidisch auf ihn herabblickten.
Stop all the clocks, cut off the telephone,
Prevent the dog from barking with a juicy bone,
Silence the pianos and with muffled drum
Bring out the coffin, let the mourners come.
He was my North, my South, my East and West,
My working week and my Sunday rest,
My noon, my midnight, my talk, my song;
I thought that love would last forever: I was wrong.
© die Autoren
Bill Weston, Duke Headshot, Jack Barringer.
Drei Namen, wie sie hier auf jedem Grabstein standen. Und die Männer, die diese Namen trugen, tranken jetzt, als müssten sie auch so schnell wie möglich nach Hause ins warme Grab kommen. Im Hintergrund spielte ein kleiner Junge mit einer Ottofrisur Chopins Nocturne in Es-Moll. Das wäre beachtlich gewesen, wenn das Klavier nicht alleine weitergespielt hätte, als der kleine Junge aufstand, um sich ein Bier zu holen. Auf einer speckigen Schieferplatte wurde für den Abend ein Cancan mit Stripbeilage, dargeboten von der Nachwuchkünstlerin Justine de Sade, angekündigt. Über der Tür hing ein dämonisch lächelnder Büffelschädel, vielleicht war es auch nur der Kopf einer der wirklich, wirklich großen Ratten, die sich Gänge in den Kompost frästen, der sich zwischen den Tischen absetzte. Er bestand vor allem aus schimmelnden Erdnussschalen, Spielkarten, geronnenem Speichel und anderen organischen Abfällen, wozu auch tote Hunde zählten. Das Ambiente war perfekt.
„Weißt du, was ich an dir schätze, Kollege Jack?“, fragte Bill, dem die Zunge schon schwer in der Mundhöhle rollte, und brachte es fertig, gleichzeitig zu rülpsen. „Dass du ein ehrlicher Mann bist. Jemand anderes hätte uns einfach über den Haufen geka–, geknallt, sich die Elefanten unter den Nagel gerissen.“
Hier legte Bill eine Pause ein, um den Nagel seines linken kleinen Fingers zu betrachten, als sinne er darüber nach, ob so eine Elefantenherde darunter tatsächlich Platz hätte. Benommen schüttelte er den Kopf.
„Schließlich“, lallte er fort, „ist auf unseren Freund hier“, mit diesem Satz klopfte er Duke Finnigan auf die Schulter, der seinen Stuhl von ihm fortrückte, „ein nicht ganz geringes Kopfgeld ausgesetzt, wenn ich richtig verstanden habe.“ Bill wollte gerade in sabbelndes Gelächter ((Gelächter)) ausbrechen, als sich Duke Headshot plötzlich sehr laut räusperte und Bill Weston seine rechte Gerade gleichzeitig dermaßen ins Gesicht stempelte, dass dessen Nase hörbar eine neue Ausdrucksform fand. Schon war Duke aufgesprungen. „Oh Verzeihung, was für ein unglücklicher Ausrutscher“, rief er laut und griff Bill Weston unter die Arme, um ihn wieder auf seinem Stuhl zu bugsieren. Dabei zischte er ihm ins Ohr: „Halt bloß deine verdammte Schnauze! Wer weiß, wem wir hier überhaupt trauen können?“
Er ließ Bill unsanft auf seinen Stuhl fallen, der sich unter plötzlich ganz nüchternen Unmutsbekundungen die Nase zusammenpuzzelte. Duke Finnigan blickte sich instinktiv um. Links hinten saßen zwei Alte und besprühten sich beim Gestikulieren gegenseitig mit Speichel. Rechts von ihnen hatte sich ein Mann niedergelassen und blätterte in der Mammoth Lake Quarterly von letztem Jahr. Das war seltsam. Zum Lesen kam eigentlich niemand hierher. Duke stellte seinen Stuhl wieder auf und pulte ein Zigarillo aus seiner Brusttasche.
Jack Barringer hatte die Szene interessiert verfolgt. Jetzt deutete er mit dem Kinn auf Bills Nase: „Na, ist doch hübscher als zuvor“, sagte er und schniedelte. Bill schnaubte und betrachtete seinen Balkon (Word-Synonym-Funktion), aus dem Blut in seine Pfeife tropfte, die jedesmal giftig zischte. Jack wandte sich an Duke: „Wo waren wir?“
Der Duke legte einen Finger auf die Lippen und beugte sich nach vorne, die anderen beiden taten es ihm nach. Nun hatten sie eine Einzelumkleide. „Ich glaube, man beobachtet uns.“ Er wies mit dem Kopf vorsichtig in Richtung des Zeitungslesers, vor dem ein Glas Bier abstumpfte.
„Ist doch Unsinn!“, sagte Jack Barringer etwas zu laut.
„Leise“, zischte Duke Jr. jetzt, „ich erkenne es daran, dass er sich das Gesicht mit Schuhcreme schwarz eingeschmiert und ein riesiges Loch in seine Zeitung geschnitten hat, durch das er uns die ganze Zeit anstarrt. Und er hat ein Schild auf der Brust!“
„Jetzt sehe ich es auch“, befand Jack Barringer verblüfft.
Auch Bill Weston konnte es sich nicht mehr verkneifen, einen Blick auf den fremden Gast zu werfen. „Peter Schneider, Ungeziefervertilgung“, las er von dem Schild an dessen Brust ab. „Klingt französisch“, befand er fachmännisch.
„Quatsch, das ist deutsch!“, zischte Jack Barringer.
„So deutsch wie Ha…“, wollte Duke Headshot gerade einen Satz beginnen, als auf der Bühne das Licht anging.
Und plötzlich glaubten sie, all ihren Schmerz zu vergessen, Bill den in seiner Nase, Duke den in seinem Geldbeutel, Jack Barringer den beim Wasserlassen.
Denn gerade war ein Engel zu ihnen herabgestiegen.
Wer fünf Tage mit einer Herde Elefanten unterwegs gewesen war, für den wirkte jeder Körper schmal und zerbrechlich. Doch dieser hier war wie eine Porzellannektarine. Wenn dass kein Engel war, dachte Bill Weston – ein Engel in einem roten, schmutzignuttigen Kostüm – ein Engel mit offensichtlich dick angemalten Bäckchen und schlampig aufgeklebten Wimpern – ein Engel, mit einer Laufmasche, so breit wie ein Schienbein – ein Engel, vor dessen Gesicht gerade die Blase eines farbleer gekauten Kaugummis zerplatzte – das war kein Engel.
Und doch. Wie sie da auf die Bühne stand. Die Rüschen perlten um ihre Hüften wie eine Sahnehaube um eine Puddingfüllung. Einen Moment lang konnte Bill kaum glauben, was geschah. Er kannte diese Frau. Sie war tot gewesen. Tot – für ihn.
Die andern merkten nichts. Duke Finnigan lutschte mit seiner grobporigen Zunge seine Zahnlücken aus und machte erigierte Geräusche. Jack Barringer gab sich pubertär und schlug immer wieder von unten gegen die Tischplatte, womit er einen Masturbationsvorgang zu simulieren trachtete, den er „den kahlen Mann zum Weinen bringen“ nannte.
„Haltet euer Maul!“, rief Bill und hämmerte seine Faust auf den Tisch, ohne den Blick von der Bühne zu wenden.
„Immer ruhig mit dem jungen Hengst“, sagte Jack Barringer und punchte Bill in die Schulter. „Man könnte fast meinen, du hättest was mit der Alten.“ Dann lachte Jack pornös und zeigte auf seinen Schritt. „Willste mal meinem einäugigen Milchmann die Hand schütteln?“
Aber Bills Augenbälle füllten sich mit Flüssigkeit. “I love thee with the passion put to use / In my old griefs, and with my childhood's faith. / I love thee with a love I seemed to lose / With my lost saints, I love thee with the breath, / Smiles, tears, of all my life! and, if God choose, / I shall but love thee better after death”, murmelte er.
„W’s?”, polterte Duke dazwischen. Er war kein Mann der Muse, obwohl er einen coolen Mantel trug.
„Elizabeth Browning“, hauchte Bill tonlos.
„Ein loser Brownie? Wo?”, fragte Duke absichtlich doof. Dann verstand er. Er zeigte in Richtung der Bühne. „Das da, das ist – Chlamydia –!“
„CLEMENTINE! Clementine Darling: Die süße Frucht“, hauchte Bill, „ihre sanfte, raue Schale, ihr saftiges Inneres, ihre kernlosen, unergründlichen Feuchtgebiete …“
„Komm wieder runter, Mann!“, rief Jack Barringer und spuckte zielsicher auf einen Hund, der irgendwo herumstand. „Die sieht doch aus wie ’n Typ!“
Bill blickte zur Bühne. Clementine Darling warf ihre drahtdünnen Beine in die Luft, aber immer so, dass der Bausch ihres roten Tüllröckchens mehr verriet als verbarg. Dazu lachte sie ein kehliges Lachen, das alle Zigarettenstummel dieser Erde gefressen zu haben schien. Zwischendurch brach sie in eine Art Bassgesang aus: „Ich bin die fesche Lola, der Liebling der Saison! Ich hab' ein Pianola zu Haus' in mein' Salon.“ Sie kannte nur diese eine Zeile, weshalb sie sie immer wiederholte. Das Klavier spielte dazu „In der Halle des Bergkönigs“ aus Griegs Peer-Gynt-Suite, wobei der kleine Junge mit dem Kopf auf die Klaviatur gesunken war und im Schlaf zuckte, wenn ihm das hohe Fis gegen die Nase knallte. Auf Clementines etwas zu eckigen Wangen lag ein bläulicher Schatten, wie bei Männern, die sich morgens nicht richtig rasierten.
Duke biss den Hintern eines Zigarillos ab, erhob sich, trat auf einen Hund, stolperte, fluchte, verschluckte eine Erdnuss. Dann hatte er sich zur Bar durchgekämpft, wo ein schmutziger Chinesen mit geflochtenem Kinnbart als Charon über die alkoholischen Giftströme wachte, die von hier aus in durstige Kehlen strömten. Duke Headshot Finnigan-Ole-Heinrich Jr. zeigte auf ein Geldstück, das er auf den Tresen legte, dann auf Clementine Darling, die sich jetzt eine obszön lange Zigarette angesteckt hatte, bevor sie auf die Schnapsidee einer Stepptanzimprovisation verfiel. Zuletzt zeigte Duke auf den Tisch, an dem Jack und Bill mit zusammengebissenen Zähnen versuchten, Clementines tänzerische Shitparade zu gut wie möglich zu ignorieren.
„Was hast du dem Chinaman gesagt?“, forschte Jack, „dass wir nachher auch auf die Bühne gehen, weil wir besser steppen als der Marshmallowman da oben?“
„Quatsch“, schnauzte Duke und setzte sich. Ihm war etwas aufgefallen. Er drehte sich herum: Aber der Schuhcremeträger vom Tisch nebenan … war verschwunden.
Clementine hatte ihren Auftritt fast hinter sich gebracht. Zum Schluss warf sie erst ihre haarigen Beine, dann drei Bälle in die Luft, von denen sie immerhin einen wieder fing. Einer fiel auf einen Hund und einer blieb, den Gesetzen der Schwerkraft zum Trotz, in der Luft verschwunden. Bill hielt schon seit einigen Minuten den Kopf gesenkt und schirmte die Augen mit den Händen ab. Müder Beifall erklang, als sich Clementine Darling schließlich mit einem Kinderschokoladenlächeln verbeugte. Der Beifall wurde etwas lauter, als sie die Verbeugung wiederholte und diesmal nicht vergaß, ihr gut gestopftes Büstier mit beiden Händen kräftig zu schütteln.
Dann verließ sie die Bühne über eine seitliche Treppe. Der Chinese gab ihr mit einem rostigen Messer ein Zeichen. Bevor Bill Weston sich versah, saß seine große Liebe zwischen seinem Piraten-Partner Duke, mit dem man Elefanten stehlen konnte, und einem Kopfgeldjäger, den sie in der Wüste aufgegabelt hatten, am Tisch.
Bill wurde steif wie eine Zuckersäule. Clementine nahm die Situation gelassen. Sie hatte ihn schon von der Theke aus erkannt, denn es gab im Wilden Westen nicht viele Männer, die ihre Pfeife mit einem pinkfarbenen Pfeifenstopfer stopften.
„Ich mag Ihr Kleid“, sagte Duke und deutete eine Verbeugung an, indem er aufstand, knickste und dabei auf einen Hund trat. „Aber noch lieber würde ich sie im Kleid der Liebe sehen …“
„Und wie sähe dieses Kleid wohl aus?“, fragte Clementine und kitzelte mit dem Finger das flauschige Damenbärtchen, das sich unter ihrer großen Nase gesammelt hatte.
„Das Kleid der Liebe ist unsichtbar“, sagte der Duke und lächelte klebrig, bevor er überflüssigerweise „Ganz nackt!“ hinzufügte. Dann war Jack Barringer an der Reihe, ein Kompliment zu machen. Er klopfte Clementine auf die Nussknacker-Hinterbacken und sagte: „Siehst wie n netter Kerl aus. Ein Kerl, der mir gerne mal was auf der Fleischflöte vorspielen dürfte, Schluckelinchen!“ Clementine kicherte mädchenhaft: „Du Schelm, du!“
Nur Bill hatte noch nichts gesagt. Clementine stützte sich auf ihre Ellenbogen und beugte den Kopf zu ihm herunter. Sie wischte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, als gäbe es dort eine Schreibe zu putzen.
„Bill, he, Billyboy! Kennst du mich nicht mehr?“
„Natürlich kenne ich dich noch, Clementine“, sagte Bill pathetisch. Jedes Wort schien eigens für diesen Anlass gedrechselt. „Du hast mich damals gegangen, Dings, verlassen. Kurz nach dem … Sache mit Hans Müller.“
„Das ist gelogen“, sagte Clementine, Trotz und Ernst in ihrer Stimme. „Ich bin gegangen, weil du versucht hast, mich zu erschießen! Als Hans mich als menschliches Schutzschild nahm, in jener Winternacht. Um ihn zu kriegen, wolltest du mein Leben geben.“
„Ah, distinctly I remember / it was in the bleak December”, hob Bill Weston an. Und brach ab.
„Du wusstest, dass ich krank war“, fuhr Clementine fort. „Aber doch nicht krank genug, um mich über den Haufen zu schießen, um deinen niedrigen Rachegelüsten nachzuhelfen. Du reaktionäres, patriarchales Schwein!“
„Bill! Du kranke Wurst“, rief Duke Finnigan und lachte. „Du kannst ihn, äh, die Lady doch nicht so einfach abballern! Wo sind Sippe und Handstand geblieben, eh?“
„Vielleicht ging es ja um Geld“, versuchte Jack Barringer zu vermitteln.
„Und nur, weil dein“, ihr fiel das Wort nicht ein, „Schnapphahn sich verklemmt hatte, konntest du nicht schießen. Sonst hättest du mich kaltblütig ermordet. Und dann Hans!“
„So cruel fate should bid us part, / Far as the pole and line”, murmelte Bill Weston.
Clementine große, mit dickem Edding umrandete Augen füllten sich mit Tränen. Ein tiefes Schluchzen rumpelte aus ihrer Kehle. „Der liebe, gute Hans Müller“, schluchzte sie. „Er hat es doch nur gut gemeint.”
Die Whiskyfontäne, die jetzt aus Jack Barringers Mund schoss, war gute fünf Meter lang. „Hans MÜLLER?!“, heulte er und packte Clementine am Arm. „Wo ist er, du Slackerbitch?“ Mit der anderen Hand zog er eine große Shotgun aus seinem Rückenholster und lud einhändig durch.
„Ihr seid wegen ihm hier?“ Clementines Augen rissen auf. „Bill, ist das wahr?“ Sie starrte ihren Ex an, dem keine passende Gedichtzeile einfiel. „Oh, ihr Schweine! Ihr männlichen Chauvinistenschweine!“, heulte Clementine und riss sich aus Jacks Griff los.
Da ertönte eine Stimme.
Eine Stimme, die alle kannten.
Eine Stimme, die ihnen das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen, wenn sie nicht hoch und weibisch gewesen wäre.
„Ich bin hier, Liebling“, sagte die Stimme. „Keine Angst, das Gesindel siehst du nie wieder.“
Jack, Bill, Duke fuhren herum. Vor der Bar stand – Hans Müller. Er hatte noch einige Streifen Schuhcreme im Gesicht, so dass seine Augen grotesk hell aus seinem Kind-spielt-im-Kohlenkeller-Gesicht herausstachen. Hinter Hans Müller poppte der Kinnbart-Chinese hinter dem Tresen hervor. Er hielt ein großes Schwert in der Hand, das leise einen Blues sang.
„Das war also gar kein Neger“, sagte Jack terminologisch unbedacht. „Du hattest Recht, Duke! Das hier ist mein“, er knirschte mit den Zähnen, „Klient.“ Er lud die Shotgun noch einmal durch, natürlich einhändig. In der anderen Hand hielt er eine Stange Dynamit.
Hans Müller machte blitzschnell einen Schritt zur Seite – einen Schritt hinter Clementine Darling. Er legte ihr eine Hand auf den Bauch und ließ sie, für die drei Elefantenräuber gut zu sehen, hinauf zu ihrem Bustier wandern.
„Bevor ich euch kaltmache“, sagte Hans abtörnend, „will ich wissen, wo meine Elefanten sind.“
„Scheiß auf deine Elefanten“, rief Duke. „Die sind längst tot.“
„Verarsch mich nicht. Die stehen draußen angeleint an der Tränke.“ Hans’ Stimme legte Raureif über die Thekenkanten. „Das sieht jedes Scheiß-Kind.“
„Ein blindes Scheiß-Kind nicht“, meckerte Duke.
„Sogar ein taubstummes, blindes Kind im Scheiß-Rollstuhl“, giftete Hans, „weil es keine zwei Meter weit kommt, ohne gegen einen Scheiß-Elefanten zu pollern!“
„Warum fragst du dann, wo deine Elefanten sind?“, fragte Duke eingeschnappt. „Arschloch!“
„Meine restlichen Elefanten, meine ich.“ Müllers Augen blinzten wie Scheiß-Porzellan.
Duke Finnigan öffnete beide Fäuste, als wolle er ein Taubenpärchen hervorzaubern. Doch seine Hände waren leer. „Fort“, hauchte er und lächelte maliziös. „Vom Winde verweht.“
Nur Bill hatte noch nichts gesagt. Jetzt, da er endlich den Mund öffnete, brach sich die ganze Qual seines brennenden Herzens Bahn, jawohl!: „Clementine!“, schrie er, „wie konntest du mir das antun? Wie konntest du zum Feind überlaufen?“
„Weil ich einfach geiler bin“, lachte Hans Müller dämonisch.
„Nein“, schrillte Clementine. Auf einmal wurde es still. Selbst Jack hörte auf, seine Shotgun einhändig nachzuladen. „Eigentlich seid ihr gleich schlimm. Ihr wolltet mich beide erschießen. Bill, um seiner Rache zu frönen, Hans, weil er eine Geisel brauchte. Ich musste mich entscheiden. Doch die Entscheidung wurde mir abgenommen: Ich leide an einer seltenen Form des Stockholm-Syndroms. Als Hans mich als Schutzschild benutzte, bin ich ihm verfallen. Ich musste mit ihm gehen. Er gab mir ein Dach über dem Kopf. Einen Job. Wärme in der Nacht.“ Sie schwieg. „Er war mir ein Schutzschild“, seufzte sie und ließ sich an seinen Hals sinken.
„Nein! Das glaube ich einfach nicht!“, rief Bill Weston, krallte die Hand in sein Flanellhemd und ging theatralisch in die Knie.
„Krieg dich wieder ein, du Flenne“, höhnte Hans Müller und befummelte Clementines stabilen Körper extraaufwändig. Dann wandte er sich an Duke. „Und du, schaff mir meine Elefanten her, Joe!“
Das hätte er nicht tun sollen.
„Niemand nennt mich Joe!“, schrie Duke Headshot Finnigan Jr., griff in Bullettime kreuzweise unter seine Achseln, zog zwei gigantisch glänzende Doppelrevolver hervor und eröffnete sofort das Feuer, die Waffen waagerecht vor dem Körper.
Schon der erste Schuss traf.
Duke Headshot Finnigan Jr. schoss nie daneben. Auf Clementines Oberkörper, zwischen ihrem krausen Brusthaar, erblühte jetzt eine tödliche, dunkelrote Rose. Ihre Blätter fielen ab und zerflossen, bis sie Clementines spitzenbesetztes Büstier ganz durchtränkt hatten. Als sie auf die Knie gesunken war, den Mund halb offen, die Arme halb erhoben, sah man Hans Müller: Sein titanweißes Boss-Hemd hatte ein Loch, das sich nicht mehr flicken lassen würde. Die gleiche Kugel, die Clementine durchbohrt hatte, hatte auch ihn getroffen, mitten ins Herz, so dass sein Oberkörper im Rhythmus des immer langsamer schlagenden Organs seine letzte Flüssigkeit versprudelte. Wie ein kaputter Springbrunnen, der schließlich ganz versiegt. Dann versiegte auch Hans Müller, die Augen starr nach oben gerichtet, wo die Tore der Vergebung vor ihm zugeschlagen wurden. Und sein Herzblut floss in ihr Herzblut und ihres floss in seins. Und siehe, es war vollbracht.
Erst jetzt, da Bill merkte, was passiert war, konnte er endlich weinen.
„Und was machen wir jetzt damit?“, fragte Jack Barringer. Er hatte eine Stange Dynamit in der Hand. Die Lunte war in Brand. „Bist du wahnsinnig?“, kreischte Duke. „Gib das her!“ Er riss Jack die Stange aus der Hand und schleuderte sie ins nächstbeste Fenster, das krachend in Tausend Scherben zersprang.
„Moment mal“, sagte jetzt Bill. „Sind draußen nicht die El–“
Der Rest war – Lärm.
Und als der Lärm sich legte, war da noch mehr Lärm. Der Lärm von tausend Gewittern. Eine Menge Fleisch und Kraft und Geld verdammt noch mal, und eine recht präzise Vorstellung der Apokalypse. Die Elefanten rissen sich, erschreckt von dem Knall, los; und weil sie mit Hundeleinen an Laternenpfählen, an Telefonzellen und den Außenstützen des Saloons festgemacht waren, ging das alles zu Bruch. Laternen knickten wie Strohhalme, Hunde wurden zertrampelt wie Ameisen, nur dass es mehr spritzte. Verandadächer brachen herunter und begruben weitere Hunde unter sich. Die ganze Hauptstraße (strenggenommen gab es ohnehin nur die Hauptstraße) verwandelte sich in ein gigantisches Meer aus Staub, Steinen und Hundeleichen. Und nur ein Kinderwagen entkam wie durch ein ferngesteuertes Wunder der völligen Annihilation, als alle verbliebenen 103 Elefanten sich zwischen Häusern hindurchdrängten, Hinterhofmauern niederrannten, das Ortsschild auffraßen und das Gefängnis derart anrempelten, dass alle Gefangenen erschlagen wurden.
Waren alle 103 Elefanten fort? Nein.
Sophia, Sophia war natürlich geblieben.
Am nächsten Tag war Clementines Beerdigung. Alle waren in Schwarz erschienen, oder in Schwarz mit Staub. Jack hatte seine aufgesprungenen Lippen mit Melkfett eingerieben, Duke war mit Sophia aufgetaucht, der er einen Kranz aus weißen Lilien um den Kopf gewunden hatte. Sie konnte sich allerliebst neben dem Grab niederknien und zerdrückte dabei nur wenige andere Grabsteine. Die meisten Toten hießen ohnehin Joe. Bill Weston aber war wie verwandelt. Er war ohne Pfeife gekommen („Rauche nicht mehr“, sagte er nur), in einem magentafarbenen Nadelstreifenanzug. Auf seinen Wangen haftete eine kaum wahrnehmbare Spur Rouge, seine Lippen waren mit einigen Punkten Gloss betupft und seine Wimpern nur bei genauer Betrachtung mit Kohle nachgedunkelt. Auch roch er jetzt nicht mehr nach Dung, sondern nach weißen Lilien. Dazu hatte er sich ein schmales Freddy-Mercury-Bärtchen stehen lassen.
Der Pfarrer freestylte die Grabrede, in der er viel von Vergebung erzählte und dreimal das Vaterunser unterbrachte. Trotzdem waren alle zufrieden. Als jeder eine Handvoll Staub in den Grabkrater geworfen hatte, verkündete Duke feierlich: „Zu Ehren von Clementine Darling lege ich meinen alten Namen, Duke Finnigan Headshot Jr., ab. Ich heiße ab sofort Duke Finnigan Heartshot. Senior. Und niemand nennt mich Joe. Ey-men.“
„Ey-men“, fielen die anderen ein.
„Sie war doch ein Mann, oder? Komm schon, gib es zu.“ Der Duke hatte gute Laune.
„Von einem Elefantenhetero lasse ich mich nicht ausquetschen“, meinte Bill nur, verdrehte die Äuglein nach oben und wedelte sich mit einem Chiffonfächer Luft zu.
Dann hob er den Kopf, uns als sie aus dem Friedhof schritten, hub er zu singen an, mit einer Stimme, so schön, dass die Engel neidisch auf ihn herabblickten.
Stop all the clocks, cut off the telephone,
Prevent the dog from barking with a juicy bone,
Silence the pianos and with muffled drum
Bring out the coffin, let the mourners come.
He was my North, my South, my East and West,
My working week and my Sunday rest,
My noon, my midnight, my talk, my song;
I thought that love would last forever: I was wrong.
© die Autoren
14. Jan, 15:54, L.W.






