Die Dinge
Lino Wirag
Die Dinge reden hör ich so gern
[Die Lampe erzählt] Natürlich war ich dabei, als Jimmy-Johnny die Kugel mit dem Kopf parierte: Sie zersplitterte sein Nasenbein, bevor sie sich durch die blütenförmige Öffnung dahinter in den Schädel schob. Natürlich hing ich über allem, als das Geschoss die weichen Teile seines Gehirns beiseitedrückte, um mit einem fingernagelkurzen Pochen an die Rückseite seines Schädels klopfte. Und natürlich war klar, dass die Kugel dort steckenblieb, wie ein zu groß geratener Hirnschrittmacher. Ich schien über allem, als sie Jimmy-Johnny von dem umgestürzten Stuhl hoben, man konnte nur ihren Atem hören und den Bierschaum, der auf die Stuhlflächen tropfte, als sie ihn auf den Boden legten, auf dem Sägespane, Erdnussschalen und Spucke sich miteinander verquirlten. Und natürlich hing ich immer noch herum, als Jimmy-Johnny sich plötzlich wieder erhob, wie ein Lazarus in die Senkrechte schnellend – auf einmal mit Superkräften begabt, wie sich die Teppichleisten zuflüsterten, denn sie hatten etwas von seinem Nasenbluten getrunken, in das auch Hirnsaft geflossen war, und wussten deshalb Bescheid. Natürlich verwundert mich so etwas nicht, nichts kann mich aus der Fassung bringen; na gut, eine mattrote 120-Watt-Birne mit Kupferlegierung vielleicht, die sich mit Härte in dich hineinschraubt. Aber die gibt es bekanntlich gar nicht. Weil ich alles von oben verfolgte, sah ich, wie die Kugel auf dem Weg schläfrig hin und her schlingerte, mal in die eine, mal in die andere Richtung rollend, wie man eine Zigarette dreht, sich derart auf Jimmy-Johnny zuschraubend (vielleicht war dieses unentschiedene Drehmoment das Wichtige, die Kugel wäre sonst zu weit vorgedrungen oder nicht weit genug). Mein Lichtschein wurde von der Oberfläche zurückgeworfen: Es war ein feiner, weißer Streifen, der mit dem Geschoss rannte, schmal wie eine Klinge. Den Reflexionen nach zu urteilen, war die Kugel aus Silber, das würde auch erklären, warum Jimmy-Johnny später Superkräfte entwickelte, denn silberfreies Metall reagiert nicht auf diese Weise mit einem Gehirn, sondern meistens mit Resultaten, die für den Gehirnträger nicht so erfreulich sind. Ich habe später gehört (diesmal von den Messern, sie verstehen etwas von Medizin, denn sie müssen oft als Operationsbesteck herhalten), dass die Silberkugel dafür sorgte, dass Jimmy-Johnnys Gedanken doppelt so schnell durch seinen Körper glitten, aber auch die Befehle, die er seinen Muskeln gab, wurden mit der doppelten Geschwindigkeit ausgeführt; daher die Superkräfte oder zumindest die vermeintlichen Superkräfte. Zahnfleischbluter Tim muss sich geärgert haben, dass er nicht die bronzene Kugel verschoss, nicht die aus Gold, obwohl sie sich doch im Magazin seines Revolvers befanden. Er hatte sechs Kugeln aus sechs verschiedenen Metallen (außerdem Kupfer, Aluminium und eine grünleuchtende Caesiumkugel, die er sich nach dem Schuss noch immer zurückgeholt hatte, denn es gab überhaupt nur diese eine). Aber er wählte die falsche, vielleicht in Eile. Und kassierte dafür ja auch. Sein Zwerg war eigentlich nicht beteiligt.
Als dann Jimmy auferstanden durch die Schwingtür gestakst war, konnte ich nichts mehr erkennen, mein Schirm hängt zu niedrig. Der Schirm hat bereits zwei bedenkliche Löcher, die die Stabilität beeinträchtigen, und eine bräunliche Stelle, wo er einmal fast Feuer gefangen hätte. Schlimmer wiegt, dass ich seit Monaten nicht abgestaubt worden bin, der alte Moses, der sich immer darum gekümmert hatte, ist ertrunken und nicht ersetzt worden. Nun macht der Staub das Licht schmutzig, und das ist fast so schlimm wie eine flackernde Birne, wie eine ungleichmäßige Strahlenstreuung, eine zu niedrige Wattzahl.
Dazu bereitet in letzter Zeit noch etwas anderes Sorgen: Ich habe vom Tresen gehört, dass es einen Modernisierungsschub geben soll. Er soll für gute Vibrationen im Lokal sorgen und die Schäden am Mobiliar begrenzen (auch für mich ist eine stabile Zukunft wichtig, seit der Elektriker mich das letzte Mal mit einem Blick angesehen hatte, der schwer zu deuten war). Natürlich frage ich mich: Wollen Sie nur die kaputten Stühle austauschen (einen wüsste ich, der hinkt wie ein behinderter Elefant), das Klavier mit frischem Grün überlackieren und den falschen Steinway-Schriftzug auf dem Deckel nachziehen? Oder soll sich der ganze Laden in ein schwedisches Möbelhaus verwandeln – samt einer sogenannten Beleuchtungssituation? Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt, denn ich hänge an meinem Kabel. Eigentlich bin ich eine Beleuchtungssituation, im Grunde bin ich unersetzlich.
[Das Büffelgeweih erzählt] Der Saloon durfte nur Saloon genannt werden, weil der Gründer ihm außer seiner Vorliebe für quergestreifte Tapeten auch seinen Namen hinterlassen hatte: Garfield Saloon. Zwerge waren hier nicht unüblich, im Gegenteil, man schätzte sie, denn man konnte leicht den Überblick behalten. Für mich hier oben macht es ohnehin kaum einen Unterschied, wie groß jemand ist, alles wuselt dort unten herum wie Käfer im Steppengras. Zahnfleischbluters Zwerg trug einen länglichen, schwarzen Sack in den Saloon, den er sich über den Rücken gespannt hatte und der immer wieder mit metallischem Klicken gegen seine Rücken stieß. In der Wüste wäre er damit nicht weiter aufgefallen, aber hier war klar, dass sich darin keine Geschenke für die braven Kinder befanden. Zwerge bedeuteten Ärger, und sei es, dass man darüber stolperte und ins Knie gebissen wurde. Diesem Exemplar gingen sogar schon die Haare aus, der Kopf von Zahnfleischbluter Tim dagegen trug einen Hut spazieren, nussbraun und sanft eingedellt wie die Flanke einer Büffelstochter. Zahnfleischbluters Hut und die glänzende Tonsur des Zwergs rückten sich je einen Stuhl an den großen Tisch unter der Lampe. Sie rollten die Fingerknöchel über die Tischplatte, einen Marsch der Knochen. Das war das Signal: Sie wollten spielen. Zahnfleischbluter manövrierte einen Satz Karten aus der Brusttasche, sein Hut wurde gelüftet und verschwand unter dem Tisch. Zuerst trat niemand an den Tisch heran. Alle wussten: Wer mit ihnen ein Spiel begann, hatte mehr zu verlieren als nur sein Geld. Das Klavier dümpelte im Hintergrund nervös vor sich hin. Der Zwerg kicherte und wühlte mit den kurzen Armen in seinem Sack, holte aber nichts heraus. Dann näherte sich Jimmy-Johnny dem Tisch. Ich erkannte ihn an seinen minzgrünen Velourshut, der etwas Lächerliches hatte. Er trug ihn aber mit großer Selbstsicherheit, genauso wie sein Tier. Er legte nun auch eine Hand auf den Tisch, sie war in einen schwarzen Lederhandschuh verkleidet, der die Fingerspitzen freiließ, und kündete mit einem Knöchelknopfen an, dass er an dem Spiel teilnehmen werde. Er hatte Angst, ich weiß das. Tote Augen sehen manchmal mehr als lebendige. Jimmy-Johnny zeigte auf den Sack, aus dem der Zwerg die Hand hastig wieder herauszog. Der Zwerg sah Zahnfleischbluter Tim an, und Zahnfleischbluter Tim nickte. Der Einsatz stand also fest.
Niemand sagte ein Wort, als Jimmy-Johnny sich setzte. Im Hintergrund drückte der Pianist ausversehen die richtige Taste. Dann begann die erste Runde.
Bestimmt spielten sie falsch. Ich weiß nur, dass sie nicht den Bindfaden-Trick benutzten: Ganze Spielkartenschwärme, die an einem Bindfaden an mir vorbeisegeln, ohne dass ich es bemerke, das gibt es nicht.
Ich habe gehört, dass der Saloon aufgeräumt werden soll, dass die Lampe gehen muss und alles eine neue Schicht Farbe bekommt. Aber sie werden es nicht wagen, das Symbol des Saloons von seinem Nagel zu holen, den schweren Schädel, der den ewigen Triumph des Menschen über die Natur verkörpert. Ein Vanitassymbol, eine metaphysische Trophäe. Die Wandstickereien lachen und behaupten, ich sei nur ein halbverdursteter Schakal, der in der Regenwassertonne ersoffen ist. Aber sie haben keine Ahnung. Ich bin ein König der Steppe! Ich bin mit der Wand in meinem Rücken verheiratet, die Holzplatte unter mir schreibt meinen Namen in Runenschrift. Im Grunde bin ich unersetzlich.
[Der Stuhl erzählt] Solidität ist das Wichtigste, Sir. Nicht, dass hier irgendein Pressspangesicht ankommt und behauptet, es hätte mit seinen Papprohr-Beinen irgendeinen Stand gegen mich. Die gehen doch unter dem erstbesten Ami zu Bruch, der ihnen seinen Burgerarsch auf den Kopf stellt! Halten nichts, die IKEA-Asiaten. Ich bin schon ganz unten, Sir, ich kann es mir erlauben, so zu reden. Die Feuchtigkeit jeder Arschfalte rieselt durch schlechtgewaschene Hosen in meinen Nacken, und die Weiber reiben ihre entzündeten Lippen über meine Kanten, wenn jemand vom Geld spricht, glauben Sie mir, Sir. Ich sehe alle kleinen Schweinereien, sehe, wie feuchte Hände schmatzend ineinanderfinden, wie Schenkel nur anstandshalber zusammengepresst werden, und dann eine Hand, die hinter dem Strumpfband ins Weiche wandert. Ich muss das alles mit ansehen, Sir, wie Beutel mit schimmelndem Wüstenhafer und ein paar zerknitterte Banknoten den Besitzer wechseln, wie Läuse von einem Hosenbein aufs andre turnen. Und sich dabei nicht korrumpieren lassen, immer mit vier Beinen auf der Erde, Sir – mein Großvater war eine niedersächsische Esche, sturmfest und erdverwachsen, habe ich das schon erwähnt, Sir? Als Jimmy-Johnny sich zu Zahnfleischbluter Tim und seinem Zwerg an den Tisch gezwängt hatte, habe ich die Vorbereitungen mitverfolgt, auf beiden Seiten: Ich sah, wie Tim sich ein kleines Gerät auf den rechten Schenkel legte, einen nervös blinkenden Kasten; ich sah auch, wie Jimmy ein Päckchen Nüsse in seine Tasche leerte. Während sie spielten, drehte Zahnfleischbluter Tim mit dem Daumen an einem Rädchen an seinem Kasten. Ich glaube, er steuerte damit eine Hologrammkarte (es muss eine im Spiel gewesen sein, vielleicht sogar mehrere). Das Praktische ist, dass man den Wert einer Hologrammkarte beliebig einstellen kann; man muss sie nur überhaupt erst einmal zwischen den anderen Karten erkennen, damit nicht stattdessen das gegnerische Blatt anfängt zu blinken wie eine Reklametafel. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, Sir? Und sie spielten beide falsch, natürlich, es war ein Gebot der Höflichkeit. Ich sah, wie Jimmy-Johnny verschrumpelte Erdnüsschen aus der Tasche fischte: Sie wanderten in seiner Hand nach oben, und dort – ich kann es nur den Geräuschen nach beurteilen, denn die Tischplatte war dazwischen – steckte er sie dem Affen in die gierig umgestülpte Schnauze, als Belohnung vermutlich. Der Affe saß wahrscheinlich auf seiner Schulter, ich bin mir sicher, dass er da war, Sir, denn von Zeit zu Zeit krallte er sich mit zappelnden Füßchen auch in meine Lehne, bevor er wieder den Rücken seines Herrchens erklomm. Ich nehme an, dass es einer dieser trainierten Affen war, Sir, ich habe davon auf einem Zeitungsschnipsel gelesen, der vom Tisch auf den Boden gesegelt war; aber wenn Sie mehr wissen wollen, dann müssen Sie die Lampe fragen. Diese Affen haben einen Minimalstift, Sir, der quasi unsichtbar ist, sie tragen ihn unter ihrem bunten Hütchen versteckt, und wenn ihnen ihr Besitzer eine Karte nach oben gibt („Wo steht, dass ich mein Blatt nicht mit meinem Affen besprechen kann?“ heißt der Satz, Sir), dann zücken ihren Minimalstift und zeichnen damit in Sekundenschnelle und völlig unbemerkt die Karte um, abgerichtet wie sie sind. Wenn es fachmännisch ausgeführt wird, lässt sich die neue Karte nicht von der alten unterscheiden (wie es genau funktioniert, stand nicht in dem Artikel, oder auf der Rückseite, die ich nicht lesen konnte). Kein Mensch oder Gegenstand kann sagen, wie viele Asse am Schluss im Spiel waren.
Aber fragen Sie besser die Lampe, ob ich Recht habe, Sie muss alles von oben angesehen haben, auch das, was nachher passierte. Ich hörte nur den Knall und spürte ein wenig Feuchtigkeit auf die Sitzfläche tropfen (ein Bier umgefallen wieder mal, dachte ich noch), dann wurde ich auch schon nach hinten umgerissen von dem fallenden Körper. Übel schlug ich auf, und es dauerte eine volle halbe Stunde, bevor mich jemand aufstellte. Mir war schwindelig und schlecht wie einem Betrunkenen.
Jetzt nervt der Tisch. Er will natürlich schon vorher gewusst haben, wie die Sache ausgeht und hört gar nicht mehr auf, davon zu reden. Ich habe gehört, dass sie den Laden dichtmachen wollen, nach all dem, was passiert ist, aber ich glaube nicht, dass mir Gefahr droht, sie können mich nicht einfach auf die Straße stellen. Den Tisch vielleicht, aber ich bin im Grunde unersetzlich.
[Die Flasche erzählt] Heikler Shit, mein Freund! Ich kam erst dazu, als sie schon mit dem Würfeln angefangen hatten – und fast hätte es mich den Flaschenhals gekostet. Der Barmann ballerte mich grob in das Gewirr aus zerknickten Karten, Tabaksbeuteln und Geldscheinen, in dem es kaum eine freie Stelle gab. Besonders der Zwerg war gemeingefährlich, er holte immer extra weit aus, wenn er mit dem Würfeln dran war, und stieß dann ruckartig mit der geballten Faust nach vorne, so dass ich jedes Mal damit rechnen musste, dass er den ganzen Tisch leerfegte. Schon als der Zwerg zum zweiten Mal würfelte, stürzte ein Glas ab und zerbarst mit einem schrecklichen, sphärischen Schrei – auch ich wurde von seinem Ellenbogen getroffen, begann zu schlingern, besinnungslos zu kreiseln … und konnte nur gerettet werden, weil der Arm des Zahnfleischbluters im letzten Moment nach mir griff und mich wieder in die Mitte des Tisches knallte. Sogleich grapschte der Zwerg, dessen Gesicht auf meinem Leib in immer neue Fratzen zerschnitten wurde, wie ein Lustmörder nach meinem Hals, kippte mich um und stieß mich dann brutal gegen den Glasrand, so dass wir beide, das Glas und ich, Kopfschmerzen davontrugen. Im meinem Bauch wurde der Sandwein hin und her geworfen, wie Sodbrennen in den Hals geschleudert, immer heftiger und schärfer, bis ich ihn geradewegs in das Glas vomierte. Die Hände von Zahnfleischbluter Tim und Jimmy-Johnny hämmerten unterdessen immer wieder auf den Tisch, sie stritten wohl, aber ich konnte nicht verstehen, worum es ging, weil ihre Stimmen in meinem Bauch zu hohlen Rülpsern verzerrt wurden. Plötzlich schossen wieder die weißen Kugeln über den Tisch, härteten sich zu Würfeln aus, von deren Seiten mich schmale, schwarze Augen anstarrten. Der Sandwein lief jetzt in traurigen Tropfen auf der Außenseite meines Körpers hinab. Natürlich mogelten beide. Es kam nur darauf an, wer besser mogelte. Jimmy muss die Nummer mit dem Magneten durchgezogen haben (so flog es dann ja auch auf), und Tim hatte seinen Zwerg dabei (warum sich sonst mit so einer hässlichen Kreatur abgeben?). Der Zwerg hatte schwache telepathische Fähigkeiten, mit denen er versuchte, die Würfel kurz vor dem Moment, an dem sie endgültig zum Stillstand kamen, noch um eine Nuance zu verschieben. Ich konnte es spüren, denn der telepathische Sog zerrte auch an den Gegenständen in der Nähe der Würfel, wenngleich der Effekt so schwach war, dass höchstens die Schnapsgläser ein wenig ins Zittern kamen. Man konnte es trotzdem sehen, daran, dass der Zwerg die Würfel aus seinem fast kahlen Schädel bei jedem Wurf anglotzte wie ein abgestochener Stier, auch daran, dass sie für Sekunden in der Schwebe blieben, winzigste Ballettbewegungen vollführten, bevor sie auf dem Tisch zu liegen kamen. Dabei war der Zwerg nicht sehr erfolgreich, oft wendete er einen eigentlich geglückten Wurf zum schlechten, indem beispielsweise eine Fünf in eine Zwei umkippte statt in eine Sechs. Doch Zahnfleischbluter Tims Gesicht blieb unbewegt wie ein Präsident am Mount Rushmore. Und immer heulte das Piano in schauderhaften Synthiesounds, dass ich schepperte. Als nachher das Schießen losging, kann ich von Glück sagen, dass ich nicht getroffen wurde. Denn auf mich warten noch viele Weine, ein volles Leben voller Flüssigkeiten. Die Leute müssen trinken, immer trinken. Im Grunde bin ich unersetzlich.
[Der Tisch erzählt] Wenn ich ein Mensch wäre, bräuchte ich einen eigenen Masseur, aber so etwas steht mir wohl nicht zu. Ich bin nur eine Art Lasttier, das alles herumschleppen muss. Gläser, Füße. Manchmal eine Leiche, die mir fast den Rücken bricht. Und dann sind da noch die verdammten Spiele, die hasse ich am meisten: Es ist nichts als ein ständiges Stoßen, Kratzen und Hauen. Die Würfel klappern wie Insektenstiche, und beim Kartenspiel fährt es mir in den Rücken wie ein Hexenschuss, wenn einer einen Stich macht und seine Pranke auf meinen Rücken hämmert. Was zwischen Jimmy und Zahnfleischbluter Tim vorgefallen ist, habe ich nicht genau mitbekommen, ich weiß nur, dass Zahnfleischbluter Tim immer wieder nach dem Zwerg trat, oder es zumindest versuchte, aber der Zwerg war so klein, dass er nur die Beine heben musste, damit Tim ihn nicht erwischte. Ich weiß aber, dass Jimmy-Johnny auf einmal einen schweren Ring am Finger hatte, den er immer wieder gegen meine Unterseite drückte. Es kitzelte, ein feiner Strom durchprickelte mich, und auf der anderen Seite fielen die Würfel dann immer ein wenig anders, als sie es hätten tun sollen. Jimmy tat überrascht und erfreut, und im Geheimen streichelte er mich, so dass es keiner sehen konnte, aber ich konnte es spüren. Der Ring fühlte sich an, als sei er aus Metall, und sicher war er aus plastikmagnetischem Material, mit dem man Gegenstände aus Kunststoff beeinflussen konnte. Ich glaube ja, dass Zahnfleischbluter Tim irgendwann einfach keine Lust mehr hatte (oder er hatte schon zuviel Geld verloren) und deshalb eine große Nagelfeile hervorzog, damit an seinen Fingern herumkratzte, um sie dann vor sich auf dem Tisch zu legen. Schon beim nächsten Würfelwurf drehte sich die Feile, die einen Griff aus Kunststoff hatte (der aber ausgesehen hatte wie dunkles Holz), in Richtung der Würfel. Aha, sagte Zahnfleischbluter Tim mit fröhlicher Stimme, als sei ihm soeben etwas Amüsantes eingefallen. Kann es sein, dass hier falsch gespielt wird? Mit diesen Worten, und ohne sich darum zu kümmern, ob er überhaupt Recht hatte, nahm er seine Waffe aus dem Holster und hielt sie in Jimmy-Johnnys Gesicht. Das war der Moment, auf den das ganze Lokal gewartet hatte. Der Zwerg lachte und öffnete seinen Sack. Er holte ein schwarzglänzendes Elementar-Geschoss heraus, das er in den Saloon richtete. Einige fluchten, diejenigen an der Tür entwischten nach draußen, die anderen streckten die Hände in die Luft. Jetzt kam der spektakuläre Moment. Oder eigentlich: die spektakulären Momente. Mir ist dabei nicht viel passiert. Mir ist nie viel passiert. Im Grunde bin ich unersetzlich.
[Der große Spiegel erzählt] Jimmy-Johnny hatte nämlich noch ein Ass im Ärmel. Oder eigentlich: im Hut. Als Zahnfleischbluter Tim ihn aufforderte, ebenfalls die Hände zu heben, führte er sie langsam an die Hutkrempe, bevor er den grünen Velours mit einem schnellen Griff vom Kopf riss. Zum Vorschein kam eine exzellente Kleinkanone, Bauart Mannerheim. Die Kanone verfügte über einen externen Zünder, der im selben Moment von Jimmy-Johnnys Affen herausgerissen wurde. Es gab einen lauten Knall, eigentlich zwei laute Knalls, und als sie verklungen waren, konnte man sehen, dass Tim ein hässliches Loch in der Schulter hatte, Jimmy-Johnny aber eines im Gesicht. Der Zwerg räumte das Geld vom Tisch in seinen Sack und ging dann zur Bar, um dort die Tageseinnahmen abzukassieren. Dann waren sie fort, nur eine Blutspur blieb zurück. Und Jimmy-Johnny, auf dem Boden, natürlich auch. Was dann passiert sein soll, glaubt ja kein Mensch, und mir dürfen Sie vertrauen, ich sehe nämlich alles.
Die Dinge reden hör ich so gern
[Die Lampe erzählt] Natürlich war ich dabei, als Jimmy-Johnny die Kugel mit dem Kopf parierte: Sie zersplitterte sein Nasenbein, bevor sie sich durch die blütenförmige Öffnung dahinter in den Schädel schob. Natürlich hing ich über allem, als das Geschoss die weichen Teile seines Gehirns beiseitedrückte, um mit einem fingernagelkurzen Pochen an die Rückseite seines Schädels klopfte. Und natürlich war klar, dass die Kugel dort steckenblieb, wie ein zu groß geratener Hirnschrittmacher. Ich schien über allem, als sie Jimmy-Johnny von dem umgestürzten Stuhl hoben, man konnte nur ihren Atem hören und den Bierschaum, der auf die Stuhlflächen tropfte, als sie ihn auf den Boden legten, auf dem Sägespane, Erdnussschalen und Spucke sich miteinander verquirlten. Und natürlich hing ich immer noch herum, als Jimmy-Johnny sich plötzlich wieder erhob, wie ein Lazarus in die Senkrechte schnellend – auf einmal mit Superkräften begabt, wie sich die Teppichleisten zuflüsterten, denn sie hatten etwas von seinem Nasenbluten getrunken, in das auch Hirnsaft geflossen war, und wussten deshalb Bescheid. Natürlich verwundert mich so etwas nicht, nichts kann mich aus der Fassung bringen; na gut, eine mattrote 120-Watt-Birne mit Kupferlegierung vielleicht, die sich mit Härte in dich hineinschraubt. Aber die gibt es bekanntlich gar nicht. Weil ich alles von oben verfolgte, sah ich, wie die Kugel auf dem Weg schläfrig hin und her schlingerte, mal in die eine, mal in die andere Richtung rollend, wie man eine Zigarette dreht, sich derart auf Jimmy-Johnny zuschraubend (vielleicht war dieses unentschiedene Drehmoment das Wichtige, die Kugel wäre sonst zu weit vorgedrungen oder nicht weit genug). Mein Lichtschein wurde von der Oberfläche zurückgeworfen: Es war ein feiner, weißer Streifen, der mit dem Geschoss rannte, schmal wie eine Klinge. Den Reflexionen nach zu urteilen, war die Kugel aus Silber, das würde auch erklären, warum Jimmy-Johnny später Superkräfte entwickelte, denn silberfreies Metall reagiert nicht auf diese Weise mit einem Gehirn, sondern meistens mit Resultaten, die für den Gehirnträger nicht so erfreulich sind. Ich habe später gehört (diesmal von den Messern, sie verstehen etwas von Medizin, denn sie müssen oft als Operationsbesteck herhalten), dass die Silberkugel dafür sorgte, dass Jimmy-Johnnys Gedanken doppelt so schnell durch seinen Körper glitten, aber auch die Befehle, die er seinen Muskeln gab, wurden mit der doppelten Geschwindigkeit ausgeführt; daher die Superkräfte oder zumindest die vermeintlichen Superkräfte. Zahnfleischbluter Tim muss sich geärgert haben, dass er nicht die bronzene Kugel verschoss, nicht die aus Gold, obwohl sie sich doch im Magazin seines Revolvers befanden. Er hatte sechs Kugeln aus sechs verschiedenen Metallen (außerdem Kupfer, Aluminium und eine grünleuchtende Caesiumkugel, die er sich nach dem Schuss noch immer zurückgeholt hatte, denn es gab überhaupt nur diese eine). Aber er wählte die falsche, vielleicht in Eile. Und kassierte dafür ja auch. Sein Zwerg war eigentlich nicht beteiligt.
Als dann Jimmy auferstanden durch die Schwingtür gestakst war, konnte ich nichts mehr erkennen, mein Schirm hängt zu niedrig. Der Schirm hat bereits zwei bedenkliche Löcher, die die Stabilität beeinträchtigen, und eine bräunliche Stelle, wo er einmal fast Feuer gefangen hätte. Schlimmer wiegt, dass ich seit Monaten nicht abgestaubt worden bin, der alte Moses, der sich immer darum gekümmert hatte, ist ertrunken und nicht ersetzt worden. Nun macht der Staub das Licht schmutzig, und das ist fast so schlimm wie eine flackernde Birne, wie eine ungleichmäßige Strahlenstreuung, eine zu niedrige Wattzahl.
Dazu bereitet in letzter Zeit noch etwas anderes Sorgen: Ich habe vom Tresen gehört, dass es einen Modernisierungsschub geben soll. Er soll für gute Vibrationen im Lokal sorgen und die Schäden am Mobiliar begrenzen (auch für mich ist eine stabile Zukunft wichtig, seit der Elektriker mich das letzte Mal mit einem Blick angesehen hatte, der schwer zu deuten war). Natürlich frage ich mich: Wollen Sie nur die kaputten Stühle austauschen (einen wüsste ich, der hinkt wie ein behinderter Elefant), das Klavier mit frischem Grün überlackieren und den falschen Steinway-Schriftzug auf dem Deckel nachziehen? Oder soll sich der ganze Laden in ein schwedisches Möbelhaus verwandeln – samt einer sogenannten Beleuchtungssituation? Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt, denn ich hänge an meinem Kabel. Eigentlich bin ich eine Beleuchtungssituation, im Grunde bin ich unersetzlich.
[Das Büffelgeweih erzählt] Der Saloon durfte nur Saloon genannt werden, weil der Gründer ihm außer seiner Vorliebe für quergestreifte Tapeten auch seinen Namen hinterlassen hatte: Garfield Saloon. Zwerge waren hier nicht unüblich, im Gegenteil, man schätzte sie, denn man konnte leicht den Überblick behalten. Für mich hier oben macht es ohnehin kaum einen Unterschied, wie groß jemand ist, alles wuselt dort unten herum wie Käfer im Steppengras. Zahnfleischbluters Zwerg trug einen länglichen, schwarzen Sack in den Saloon, den er sich über den Rücken gespannt hatte und der immer wieder mit metallischem Klicken gegen seine Rücken stieß. In der Wüste wäre er damit nicht weiter aufgefallen, aber hier war klar, dass sich darin keine Geschenke für die braven Kinder befanden. Zwerge bedeuteten Ärger, und sei es, dass man darüber stolperte und ins Knie gebissen wurde. Diesem Exemplar gingen sogar schon die Haare aus, der Kopf von Zahnfleischbluter Tim dagegen trug einen Hut spazieren, nussbraun und sanft eingedellt wie die Flanke einer Büffelstochter. Zahnfleischbluters Hut und die glänzende Tonsur des Zwergs rückten sich je einen Stuhl an den großen Tisch unter der Lampe. Sie rollten die Fingerknöchel über die Tischplatte, einen Marsch der Knochen. Das war das Signal: Sie wollten spielen. Zahnfleischbluter manövrierte einen Satz Karten aus der Brusttasche, sein Hut wurde gelüftet und verschwand unter dem Tisch. Zuerst trat niemand an den Tisch heran. Alle wussten: Wer mit ihnen ein Spiel begann, hatte mehr zu verlieren als nur sein Geld. Das Klavier dümpelte im Hintergrund nervös vor sich hin. Der Zwerg kicherte und wühlte mit den kurzen Armen in seinem Sack, holte aber nichts heraus. Dann näherte sich Jimmy-Johnny dem Tisch. Ich erkannte ihn an seinen minzgrünen Velourshut, der etwas Lächerliches hatte. Er trug ihn aber mit großer Selbstsicherheit, genauso wie sein Tier. Er legte nun auch eine Hand auf den Tisch, sie war in einen schwarzen Lederhandschuh verkleidet, der die Fingerspitzen freiließ, und kündete mit einem Knöchelknopfen an, dass er an dem Spiel teilnehmen werde. Er hatte Angst, ich weiß das. Tote Augen sehen manchmal mehr als lebendige. Jimmy-Johnny zeigte auf den Sack, aus dem der Zwerg die Hand hastig wieder herauszog. Der Zwerg sah Zahnfleischbluter Tim an, und Zahnfleischbluter Tim nickte. Der Einsatz stand also fest.
Niemand sagte ein Wort, als Jimmy-Johnny sich setzte. Im Hintergrund drückte der Pianist ausversehen die richtige Taste. Dann begann die erste Runde.
Bestimmt spielten sie falsch. Ich weiß nur, dass sie nicht den Bindfaden-Trick benutzten: Ganze Spielkartenschwärme, die an einem Bindfaden an mir vorbeisegeln, ohne dass ich es bemerke, das gibt es nicht.
Ich habe gehört, dass der Saloon aufgeräumt werden soll, dass die Lampe gehen muss und alles eine neue Schicht Farbe bekommt. Aber sie werden es nicht wagen, das Symbol des Saloons von seinem Nagel zu holen, den schweren Schädel, der den ewigen Triumph des Menschen über die Natur verkörpert. Ein Vanitassymbol, eine metaphysische Trophäe. Die Wandstickereien lachen und behaupten, ich sei nur ein halbverdursteter Schakal, der in der Regenwassertonne ersoffen ist. Aber sie haben keine Ahnung. Ich bin ein König der Steppe! Ich bin mit der Wand in meinem Rücken verheiratet, die Holzplatte unter mir schreibt meinen Namen in Runenschrift. Im Grunde bin ich unersetzlich.
[Der Stuhl erzählt] Solidität ist das Wichtigste, Sir. Nicht, dass hier irgendein Pressspangesicht ankommt und behauptet, es hätte mit seinen Papprohr-Beinen irgendeinen Stand gegen mich. Die gehen doch unter dem erstbesten Ami zu Bruch, der ihnen seinen Burgerarsch auf den Kopf stellt! Halten nichts, die IKEA-Asiaten. Ich bin schon ganz unten, Sir, ich kann es mir erlauben, so zu reden. Die Feuchtigkeit jeder Arschfalte rieselt durch schlechtgewaschene Hosen in meinen Nacken, und die Weiber reiben ihre entzündeten Lippen über meine Kanten, wenn jemand vom Geld spricht, glauben Sie mir, Sir. Ich sehe alle kleinen Schweinereien, sehe, wie feuchte Hände schmatzend ineinanderfinden, wie Schenkel nur anstandshalber zusammengepresst werden, und dann eine Hand, die hinter dem Strumpfband ins Weiche wandert. Ich muss das alles mit ansehen, Sir, wie Beutel mit schimmelndem Wüstenhafer und ein paar zerknitterte Banknoten den Besitzer wechseln, wie Läuse von einem Hosenbein aufs andre turnen. Und sich dabei nicht korrumpieren lassen, immer mit vier Beinen auf der Erde, Sir – mein Großvater war eine niedersächsische Esche, sturmfest und erdverwachsen, habe ich das schon erwähnt, Sir? Als Jimmy-Johnny sich zu Zahnfleischbluter Tim und seinem Zwerg an den Tisch gezwängt hatte, habe ich die Vorbereitungen mitverfolgt, auf beiden Seiten: Ich sah, wie Tim sich ein kleines Gerät auf den rechten Schenkel legte, einen nervös blinkenden Kasten; ich sah auch, wie Jimmy ein Päckchen Nüsse in seine Tasche leerte. Während sie spielten, drehte Zahnfleischbluter Tim mit dem Daumen an einem Rädchen an seinem Kasten. Ich glaube, er steuerte damit eine Hologrammkarte (es muss eine im Spiel gewesen sein, vielleicht sogar mehrere). Das Praktische ist, dass man den Wert einer Hologrammkarte beliebig einstellen kann; man muss sie nur überhaupt erst einmal zwischen den anderen Karten erkennen, damit nicht stattdessen das gegnerische Blatt anfängt zu blinken wie eine Reklametafel. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, Sir? Und sie spielten beide falsch, natürlich, es war ein Gebot der Höflichkeit. Ich sah, wie Jimmy-Johnny verschrumpelte Erdnüsschen aus der Tasche fischte: Sie wanderten in seiner Hand nach oben, und dort – ich kann es nur den Geräuschen nach beurteilen, denn die Tischplatte war dazwischen – steckte er sie dem Affen in die gierig umgestülpte Schnauze, als Belohnung vermutlich. Der Affe saß wahrscheinlich auf seiner Schulter, ich bin mir sicher, dass er da war, Sir, denn von Zeit zu Zeit krallte er sich mit zappelnden Füßchen auch in meine Lehne, bevor er wieder den Rücken seines Herrchens erklomm. Ich nehme an, dass es einer dieser trainierten Affen war, Sir, ich habe davon auf einem Zeitungsschnipsel gelesen, der vom Tisch auf den Boden gesegelt war; aber wenn Sie mehr wissen wollen, dann müssen Sie die Lampe fragen. Diese Affen haben einen Minimalstift, Sir, der quasi unsichtbar ist, sie tragen ihn unter ihrem bunten Hütchen versteckt, und wenn ihnen ihr Besitzer eine Karte nach oben gibt („Wo steht, dass ich mein Blatt nicht mit meinem Affen besprechen kann?“ heißt der Satz, Sir), dann zücken ihren Minimalstift und zeichnen damit in Sekundenschnelle und völlig unbemerkt die Karte um, abgerichtet wie sie sind. Wenn es fachmännisch ausgeführt wird, lässt sich die neue Karte nicht von der alten unterscheiden (wie es genau funktioniert, stand nicht in dem Artikel, oder auf der Rückseite, die ich nicht lesen konnte). Kein Mensch oder Gegenstand kann sagen, wie viele Asse am Schluss im Spiel waren.
Aber fragen Sie besser die Lampe, ob ich Recht habe, Sie muss alles von oben angesehen haben, auch das, was nachher passierte. Ich hörte nur den Knall und spürte ein wenig Feuchtigkeit auf die Sitzfläche tropfen (ein Bier umgefallen wieder mal, dachte ich noch), dann wurde ich auch schon nach hinten umgerissen von dem fallenden Körper. Übel schlug ich auf, und es dauerte eine volle halbe Stunde, bevor mich jemand aufstellte. Mir war schwindelig und schlecht wie einem Betrunkenen.
Jetzt nervt der Tisch. Er will natürlich schon vorher gewusst haben, wie die Sache ausgeht und hört gar nicht mehr auf, davon zu reden. Ich habe gehört, dass sie den Laden dichtmachen wollen, nach all dem, was passiert ist, aber ich glaube nicht, dass mir Gefahr droht, sie können mich nicht einfach auf die Straße stellen. Den Tisch vielleicht, aber ich bin im Grunde unersetzlich.
[Die Flasche erzählt] Heikler Shit, mein Freund! Ich kam erst dazu, als sie schon mit dem Würfeln angefangen hatten – und fast hätte es mich den Flaschenhals gekostet. Der Barmann ballerte mich grob in das Gewirr aus zerknickten Karten, Tabaksbeuteln und Geldscheinen, in dem es kaum eine freie Stelle gab. Besonders der Zwerg war gemeingefährlich, er holte immer extra weit aus, wenn er mit dem Würfeln dran war, und stieß dann ruckartig mit der geballten Faust nach vorne, so dass ich jedes Mal damit rechnen musste, dass er den ganzen Tisch leerfegte. Schon als der Zwerg zum zweiten Mal würfelte, stürzte ein Glas ab und zerbarst mit einem schrecklichen, sphärischen Schrei – auch ich wurde von seinem Ellenbogen getroffen, begann zu schlingern, besinnungslos zu kreiseln … und konnte nur gerettet werden, weil der Arm des Zahnfleischbluters im letzten Moment nach mir griff und mich wieder in die Mitte des Tisches knallte. Sogleich grapschte der Zwerg, dessen Gesicht auf meinem Leib in immer neue Fratzen zerschnitten wurde, wie ein Lustmörder nach meinem Hals, kippte mich um und stieß mich dann brutal gegen den Glasrand, so dass wir beide, das Glas und ich, Kopfschmerzen davontrugen. Im meinem Bauch wurde der Sandwein hin und her geworfen, wie Sodbrennen in den Hals geschleudert, immer heftiger und schärfer, bis ich ihn geradewegs in das Glas vomierte. Die Hände von Zahnfleischbluter Tim und Jimmy-Johnny hämmerten unterdessen immer wieder auf den Tisch, sie stritten wohl, aber ich konnte nicht verstehen, worum es ging, weil ihre Stimmen in meinem Bauch zu hohlen Rülpsern verzerrt wurden. Plötzlich schossen wieder die weißen Kugeln über den Tisch, härteten sich zu Würfeln aus, von deren Seiten mich schmale, schwarze Augen anstarrten. Der Sandwein lief jetzt in traurigen Tropfen auf der Außenseite meines Körpers hinab. Natürlich mogelten beide. Es kam nur darauf an, wer besser mogelte. Jimmy muss die Nummer mit dem Magneten durchgezogen haben (so flog es dann ja auch auf), und Tim hatte seinen Zwerg dabei (warum sich sonst mit so einer hässlichen Kreatur abgeben?). Der Zwerg hatte schwache telepathische Fähigkeiten, mit denen er versuchte, die Würfel kurz vor dem Moment, an dem sie endgültig zum Stillstand kamen, noch um eine Nuance zu verschieben. Ich konnte es spüren, denn der telepathische Sog zerrte auch an den Gegenständen in der Nähe der Würfel, wenngleich der Effekt so schwach war, dass höchstens die Schnapsgläser ein wenig ins Zittern kamen. Man konnte es trotzdem sehen, daran, dass der Zwerg die Würfel aus seinem fast kahlen Schädel bei jedem Wurf anglotzte wie ein abgestochener Stier, auch daran, dass sie für Sekunden in der Schwebe blieben, winzigste Ballettbewegungen vollführten, bevor sie auf dem Tisch zu liegen kamen. Dabei war der Zwerg nicht sehr erfolgreich, oft wendete er einen eigentlich geglückten Wurf zum schlechten, indem beispielsweise eine Fünf in eine Zwei umkippte statt in eine Sechs. Doch Zahnfleischbluter Tims Gesicht blieb unbewegt wie ein Präsident am Mount Rushmore. Und immer heulte das Piano in schauderhaften Synthiesounds, dass ich schepperte. Als nachher das Schießen losging, kann ich von Glück sagen, dass ich nicht getroffen wurde. Denn auf mich warten noch viele Weine, ein volles Leben voller Flüssigkeiten. Die Leute müssen trinken, immer trinken. Im Grunde bin ich unersetzlich.
[Der Tisch erzählt] Wenn ich ein Mensch wäre, bräuchte ich einen eigenen Masseur, aber so etwas steht mir wohl nicht zu. Ich bin nur eine Art Lasttier, das alles herumschleppen muss. Gläser, Füße. Manchmal eine Leiche, die mir fast den Rücken bricht. Und dann sind da noch die verdammten Spiele, die hasse ich am meisten: Es ist nichts als ein ständiges Stoßen, Kratzen und Hauen. Die Würfel klappern wie Insektenstiche, und beim Kartenspiel fährt es mir in den Rücken wie ein Hexenschuss, wenn einer einen Stich macht und seine Pranke auf meinen Rücken hämmert. Was zwischen Jimmy und Zahnfleischbluter Tim vorgefallen ist, habe ich nicht genau mitbekommen, ich weiß nur, dass Zahnfleischbluter Tim immer wieder nach dem Zwerg trat, oder es zumindest versuchte, aber der Zwerg war so klein, dass er nur die Beine heben musste, damit Tim ihn nicht erwischte. Ich weiß aber, dass Jimmy-Johnny auf einmal einen schweren Ring am Finger hatte, den er immer wieder gegen meine Unterseite drückte. Es kitzelte, ein feiner Strom durchprickelte mich, und auf der anderen Seite fielen die Würfel dann immer ein wenig anders, als sie es hätten tun sollen. Jimmy tat überrascht und erfreut, und im Geheimen streichelte er mich, so dass es keiner sehen konnte, aber ich konnte es spüren. Der Ring fühlte sich an, als sei er aus Metall, und sicher war er aus plastikmagnetischem Material, mit dem man Gegenstände aus Kunststoff beeinflussen konnte. Ich glaube ja, dass Zahnfleischbluter Tim irgendwann einfach keine Lust mehr hatte (oder er hatte schon zuviel Geld verloren) und deshalb eine große Nagelfeile hervorzog, damit an seinen Fingern herumkratzte, um sie dann vor sich auf dem Tisch zu legen. Schon beim nächsten Würfelwurf drehte sich die Feile, die einen Griff aus Kunststoff hatte (der aber ausgesehen hatte wie dunkles Holz), in Richtung der Würfel. Aha, sagte Zahnfleischbluter Tim mit fröhlicher Stimme, als sei ihm soeben etwas Amüsantes eingefallen. Kann es sein, dass hier falsch gespielt wird? Mit diesen Worten, und ohne sich darum zu kümmern, ob er überhaupt Recht hatte, nahm er seine Waffe aus dem Holster und hielt sie in Jimmy-Johnnys Gesicht. Das war der Moment, auf den das ganze Lokal gewartet hatte. Der Zwerg lachte und öffnete seinen Sack. Er holte ein schwarzglänzendes Elementar-Geschoss heraus, das er in den Saloon richtete. Einige fluchten, diejenigen an der Tür entwischten nach draußen, die anderen streckten die Hände in die Luft. Jetzt kam der spektakuläre Moment. Oder eigentlich: die spektakulären Momente. Mir ist dabei nicht viel passiert. Mir ist nie viel passiert. Im Grunde bin ich unersetzlich.
[Der große Spiegel erzählt] Jimmy-Johnny hatte nämlich noch ein Ass im Ärmel. Oder eigentlich: im Hut. Als Zahnfleischbluter Tim ihn aufforderte, ebenfalls die Hände zu heben, führte er sie langsam an die Hutkrempe, bevor er den grünen Velours mit einem schnellen Griff vom Kopf riss. Zum Vorschein kam eine exzellente Kleinkanone, Bauart Mannerheim. Die Kanone verfügte über einen externen Zünder, der im selben Moment von Jimmy-Johnnys Affen herausgerissen wurde. Es gab einen lauten Knall, eigentlich zwei laute Knalls, und als sie verklungen waren, konnte man sehen, dass Tim ein hässliches Loch in der Schulter hatte, Jimmy-Johnny aber eines im Gesicht. Der Zwerg räumte das Geld vom Tisch in seinen Sack und ging dann zur Bar, um dort die Tageseinnahmen abzukassieren. Dann waren sie fort, nur eine Blutspur blieb zurück. Und Jimmy-Johnny, auf dem Boden, natürlich auch. Was dann passiert sein soll, glaubt ja kein Mensch, und mir dürfen Sie vertrauen, ich sehe nämlich alles.
2. Nov, 20:22, L.W.






