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Komisches, Kritisches, Unerhebliches aus Lino Wirags Text-Bild-Werkstatt. Quasi täglich.

Tiefere Archive

Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist das Pfeifen, mit dem die Ziegel vom Dach fielen, das Knallen, mit dem sie auf dem Asphalt zerplatzten. Mir scheint, dass es die letzte Erinnerung ist, die ich habe; ich habe wohl nur noch diese eine, immer wenn ich versuche, mich an etwas zu erinnern, kommt mir nichts anderes mehr in den Sinn als diese eine Erinnerung. Wenn ich auf die Straße trete, ergreift mich ein Gefühl von Belebung, es durchfährt mich, erweckt mich und rendert mich aufmerksam. Der Blick aus dem Fenster genügt, um zu wissen, was mich draußen erwartet: eine graue Straße. Seit einigen Wochen werden die Autos weniger, inzwischen sind sie ganz verstummt. Nicht mehr rauscht das Brausen der Räder über den Asphalt. Ich wollte mit meiner Frau darüber reden, aber ich kann sie einfach nicht mehr finden. Möglich, dass sie krank geworden ist, weggezogen oder verschwunden, ohne mir Bescheid zu sagen. Ich telefoniere ihr nicht hinterher; warte vielmehr einfach ab. Rot liegt das Telefon im Flur, es hat ein schwarzes, vielfach gewundenes Kabel. Ich berühre es nicht oder nur äußerst ungern. Viel lieber würde ich in einem Land wohnen, wo ich mir um das Älterwerden keine Sorgen machen muss, weil man in diesem Land viel zu früh stirbt. Nachts lausche ich den Bären, die langsam in unsere Gegend vordringen. Es könnten auch Marder sein, Füchse oder Wildpferde; aber ich glaube, die Bären kommen zuerst. Wenn sie sich geholt haben, was sie brauchen, dann ist Platz für den Nachschub. Lange lache ich, mein Gelächter bricht sich seltsam leer an den Rängen, die die Häuserwände vorstellen. Ich nehme sie nicht ernst, leeren Balkone, ich warte, bis sie marodieren, bröckeln und sich gegenseitig in die Tiefe reißen. Den Häuser läuft also langsam der Putz davon wie alte Haut. Sie schälen sich wie Schlangen. Ich beobachte es halb-amüsiert. Nur die alte Übelkeit ist wieder aufgetaucht. Sie hat sich in meinem Magen eingegraben und mich seither nicht mehr losgelassen. Hyazinthen. Der Geruch von Hyazinthen klebt in der Luft. Immer frage ich mich, ob meine Sensorien fein genug sind, ob sie genug wahrnehmen, scharf genug umrechnen. Gut genug wiedergeben. Ich justiere sie neu, mit einer Splinterschraube hebe ich langsam die Schädeldecke an. Meine Frau hat immer noch nichts von sich hören lassen. Ich wünschte, ich wüsste mehr über sie. Ich gehe nach oben, fange an, in den alten Büchern zu wühlen. Die Schriftzeichen stehen nutzlos da, verweht. Bitter wird mir auf einmal meine Einsamkeit bewusst, die mich früher nie gestört hat. Ich mache mir große Vorwürfe darüber, dass ich nicht genug unter Menschen bin. Seit Tagen hängt ein Plakat vor dem Fenster, das den großen Kaputznik zeigt. Er lacht ein Maschinengewehrlachen und hat schlechtgeputzte Zähne. Ich schiebe das Fenster auf und sehe auf der Straße nach, ob vielleicht meine Frau dort steht. Aber ich kann nichts erkennen, wegen des Plakats. Eine große Müdigkeit überkommt mich, überwältigend wie ein dicker Mantel. Auch werden meine Füße schwer. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten, lasse mich in meine goldenen Sessel sinken. Mit den Fingern taste ich nach den Rotzpopeln unter der Sitzlehne. Sie sind angetrocknet und hart. Mit Freude zerdrücke ich einen nach dem anderen wie kleine Knallerbsen. Wieder kommt mir meine Frau in den Sinn. Ich sehe sie wie ein Mosaik, aus vielen Bruchstücken sich zusammensetzen. Sie lässt sich in ihren Sessel fallen, die Arme hat sie auf den Lehnen aufgekantet. Ich betrachte ihr Gesicht, auf dem sich Falten eingegraben haben, die mich an Ackerfurchen erinnern. Bei manchen Frauen wirkt Schönheit anmaßend, meine Frau ist eine solche. Ihre Strahlkraft ist zurückgenommen, eingefaltet. Langsam schiebt sie den Kopf in meine Richtung, reißt die Zähne zu einem Lächeln auf. Die Zimmertemperatur sinkt rapide. Falter setzen sich auf ihre Stirn, Falter mit braunen Fühlern. Auf ihren Flügeln sind die Gesichter von Toten abgebildet. Ich erkenne Abraham Lincoln, Johnny Cash und einen drittklassigen US-amerikanischen Schauspieler aus den 70er Jahren, dessen Name mir nicht einfällt. Die Falter begribbeln und begrabbeln alles mit ihren kratzigen Fühlern. Kützeln. Meine Frau windet sich unter den tastenden Zugriffen, unter dem gierigen Begreifen der Taster. Wie schrecklich, dachte ich da, dass man immer nur einen Gedanken auf einmal denken könnte; wie gerne hätte ich die ganze Multitude, Exuberanz des Lebens auf einmal vor mir hingeschüttet gehabt. So blieb aber nur ein dünner und irgendwo nutzloser Teil des Weltreichtums für mich übrig. Woher aber wusste man, ob man in der gleichen Zeit nicht etwas anderes hätte denken sollen, wenn man doch wieder Denken musste, um hinter diesem Denken herzudenken. Ob Frauen, die ja als multi-tasking-fähig galten, in der Lage waren, zwei Sachen gleichzeitig zu denken? Ich hatte dieses Zweifelnde, Skrupulöse als Grundsituation zu akzeptieren; gleichzeitig kam eine Akzeptanz nicht in Frage, würde sie doch zur einer völligen Lähmung führen. Akzeptanz war immer gleichbedeutend mit Stillstand. Konnte das mein Ziel sein. Ich beschlosse, mehr über meine Gefühle zu erfahren. Ich wusste, dass ich häufig unfroh war und führte das auf den Umstand zurück, dass ich mein Leben nicht meinen Fähigkeiten entsprechend gestalten konnte. In diesem Dilemma rieben wir uns also auf: die Unmöglichkeit, das Beste zu erkennen, wenn man es erlebt.
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