Neuerscheinungen

LINOWIRAG.DE | Linoblog:
Komisches, Kritisches, Unerhebliches aus Lino Wirags Text-Bild-Werkstatt. Quasi täglich.

Du bist nicht berechtigt diesen Beitrag zu lesen.

Murm

Ich sage zu Vater, dass ich die Murmeltiere suchen gehe.
Mein Vater dreht den Kopf wie eine Eule, bis seine eiscremefarbenen Augen in mein Gesicht fallen.
Ich packe meinen Rucksack. Und in den Rucksack packe ich: Die große Kanne, von der Großmutter gesagt hat, sie hat ihr einmal das Leben gerettet, als eine Kugel knapp über dem Schaft einschlug. Ich habe sie mit Bergwasser gefüllt, das wie eine Fensterglasscheibe in der großen Kanne liegt. Das Erste-Hilfe-Set habe ich bei einer Pfadfinderlotterie gewonnen. Es war nur halb gefüllt, sie hatten die meisten Pflaster und Mullbinden benötigt, um die kleinen Tiere zu versorgen, die von den Erwachsenen zertreten werden. Ich hatte den Rest aus den alten Beständen der Eltern füllen müssen: Ein Schmierlappen diente mir dabei als Transfusionskurbel, die alten Schrauben und Nägel aus dem Keller wollte ich im Notfall verwenden, um Knochenbrüche wiederherzustellen. Eine Gardinenstange diente mir als Schiene, falls eine Elle brechen sollte.
Was willst du mit dem alten Fell?, fragte der Vater.
Das ist eine Wärmedecke, erklärte ich ihm. Außerdem schützt sie mich vor Murmeltierbissen. Diese Tiere sind gefährlich, wie du weißt.
Zum ersten Mal sah ich den Vater nicken. Er hatte das schwere Buch „Murmeltiere im Zwielicht“ aufgeschlagen, das vor den Murmeltieren und ihrem Grausen warnt. Darin sind Geschichten zu finden wie „Als die Murmeltiere ihre niedlichen Äuglein zum Beschuss der Frauen und Kinder verwendeten“ oder auch „Murmeltiere: Mörder der Talsohlen“. Vaters Fingerfurchen fahren über die Seiten. Er tut, als ob er von allem nichts gehört hätte, obwohl es sich direkt unter seinen Augen abspielt. Zwischen seinen Fingern ist ein handkoloriertes Bild, auf dem ein Murmeltier einem Igel den Schwanz abbeißt. Ein kleines Mädchen im Hintergrund muss alles hilflos mit ansehen. Ihre Augen sind geweitet, als hätte man sie mit Stemmeisen aufgebrochen.
Ich nehmen einen Schluck aus meiner Tieftrinkflasche. Sie ist mit dem Powergetränk Isoturn 3.100 gefüllt, das normalerweise nur an Katzen verabreicht werden darf. Aber ich habe herausgefunden, dass es auf Menschen eine euphorisierende Wirkung hat: Sie werden davon Supermenschen. Ihre Muskeln schwellen an wie Sandsäcke, können aber auch aufplatzen und ihren Inhalt verlieren. Dieses Risiko besteht immer. Es lässt sich nur einschränken, indem man Subanker in die Hände schlägt und den Kopfstamm ganz sanft auf den Boden bettet. Ich habe mich dieser Mühe bislang noch nicht unterzogen. Mein kleiner Bruder aber (er ist schon fast kahl von den Hundebissen, die seine Kopfhaut zernagt haben) sagt, dass ich mutiger sein soll, damit es vorangehen kann. Ich nicke ihm zu, damit es vorangeht.
Jetzt kommt auch die Mutter hervorgekrochen. Sie hat sich hinter dem Haus versteckt gehalten, damit der Vater sie nicht findet. Sie ist sehr klein und verschrumpelt, weil sie schon lange keinen Regen mehr erlebt hat. Ich werde ihr eine tüchtige Dusche verpassen, wenn ich von meinem Ausflug zu den Murmlern zurück bin.
Doch noch sage ich nichts. Sie soll sich die Vorfreude behalten dürfen.
Der Vater blickt böse. Vielleicht möchte er, dass ich ihn auf meine Reise mitnehme. Ich überlege, ob es gelingen kann, ihn in den großen Rucksack zu sperren. Schnell sehe ich ein, dass dieses Vorhaben scheitern muss. Ich stelle mir vor, wie die Schnüre platzen, wie die Riemen aus dem Leim gehen.
Dann springen die Knöpfe ab. Sie platzen und prasseln auf die Erde. Das Geräusch ist kaum zu ertragen. Es hallt als Hagelschauer in den Ohren.
Ich gehe jetzt!, rufe ich in den Raum hinein. Von der Holzdecke kommt der Klang gefedert zurück. Ich nehme es als ein Zeichen, dass der Rest der Familie einverstanden ist.
Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Es klingt wie das Knirschen von Murmeltierzähnen. Ich höre kaum hin. Weiter zieht es mich hinaus in den Schnee, der plötzlich einsetzt. Er staubt dick aus dem Himmel. Ich freue mich über die unerwartete Abwechslung von oben.
Auch die Gebietskarten haben sich schnell angepasst. Sie sind ganz weiß geworden. Ich habe nun überhaupt keine Problem mehr damit, mich zurechtzufinden. Auf der weißen Landkarte bin ich immer überall und überall immer.
Schon sind meine Fußstapfen auf den steinernen Platten vor dem Haus zu hören. Sie klingen trocken und hart. Ich schreite schnell aus. Hinter mir versinkt der Grat der Hauses zwischen den Föhren. Ich habe sie mit dem Onkel gepflanzt, als ich noch ein Kind war. Jetzt sind sie an den Ästen verwittert. Die Grate werden langsam grau.
Counter
Neuerscheinungen